: Reclam Verlag
: Die schönsten Wintermärchen Reclam Taschenbuch
: Reclam Verlag
: 9783159623009
: Reclam Taschenbuch
: 1
: CHF 7.80
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 189
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die schönsten Märchen für die kalte Jahreszeit Was gibt es an einem dunklen Winterabend Schöneres, als sich warm eingemummelt von Märchen in fantasievolle Abenteuer entführen zu lassen? Gerade die kalte Jahreszeit mit ihren ganz eigenen Sagengestalten, dem zauberhaften Schnee und ihrem strahlenden Höhepunkt, der Weihnachtszeit, lädt seit jeher zum Geschichtenerzählen und -genießen ein. Ob alte Bekannte von den Brüdern Grimm und Hans Christian Andersen oder neuere Erzählungen von Astrid Lindgren und Oscar Wilde - die Märchen in dieser Sammlung erzählen von bitterer Kälte, warmer Liebe und Licht in der Dunkelheit.• Von Hans Christian Andersen bis Astrid Lindgren• Ein Lesebuch für die gemütlichste Zeit des Jahres• Zum Vorlesen für die ganze Familie

Selma Lagerlöf

Die Legende von der Christrose


Die Räubermutter, die in der Räuberhöhle oben im Göingewald lebte, war eines Tages auf Bettelfahrt unten in der Ebene losgezogen. Der Räubervater selbst war vogelfrei und traute sich nicht, den Wald zu verlassen, er begnügte sich damit, aus dem Hinterhalt Reisende zu überfallen, die sich in das Waldgebiet wagten. Doch zu der Zeit gab es nicht viele Reisende im nördlichen Schonen. Wenn der Mann also mehrere Wochen lang kein Glück bei seiner Jagd gehabt hatte, machte sich die Ehefrau auf den Weg. Sie hatte ihre fünf Kinder bei sich, und jedes Kind trug zerrissene Lederkleider und Rindenschuhe und auf dem Rücken einen Sack, der genauso groß war wie der Knirps selbst. Sobald sie ein Haus betrat, traute sich niemand, ihr das vorzuenthalten, was sie haben wollte, denn sie scheute sich nicht, in der nächsten Nacht zurückzukehren und Feuer zu legen, wenn sie nicht gut genug empfangen worden war. Die Räubermutter und ihre Kinder waren schlimmer als ein Wolfsrudel, und viele hätten nicht übel Lust gehabt, sie aufzuspießen, doch dazu kam es nie, weil man wusste, dass der Alte noch oben im Wald hauste, und er wüsste schon, wie man sich rächt, wenn seinen Kindern und seiner Frau etwas zugestoßen wäre.

Als nun die Räubermutter bettelnd von Hof zu Hof ging, kam sie eines schönen Tages nach Öved, wo zu der Zeit ein Kloster lag. Sie klingelte an der Klosterpforte und begehrte etwas zu essen, und die Torwache öffnete eine kleine Luke im Tor und reichte ihr sechs runde Brote, eines für sie und eines für jedes ihrer Kinder.

Während die Mutter ruhig am Tor wartete, liefen die Kinder umher. Und nach einer Weile kam einer der Jungen zu ihr und zupfte an ihrem Kleid als Zeichen, dass er etwas gefunden hatte und sie kommen und es anschauen sollte, und die Räubermutter ging sofort mit ihm.

Das ganze Kloster war von einer hohen, dicken Mauer umgeben, doch der Junge hatte trotz allem eine kleine Hinterpforte gefunden, die nur angelehnt war. Als die Räubermutter dort ankam, schob sie augenblicklich das Türchen auf und trat, ohne um Erlaubnis zu fragen, ein, so wie sie es immer tat.

Öveds Kloster wurde zu der Zeit von Abt Hans geleitet, einem kräuterkundigen Mann. Er hatte innerhalb der Klostermauern einen kleinen Kräutergarten angelegt, und in diesen drang die Räubermutter nun ein.

Beim ersten Anblick war die Räubermutter derart erstaunt, dass sie am Eingang stehenblieb. Es war Hochsommer, und Abt Hans’ Kräutergarten stand so voll in Blüte, dass es vor Blau, Rot und Gelb nur so funkelte, wenn man ihn betrachtete. Doch bald breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie lief einen schmalen Gang zwischen vielen kleinen Blumenbeeten entlang.

Im Garten lief ein Laienbruder umher und zupfte Unkraut. Er war es gewesen, der die Pforte in der Mauer hatte halb offen stehen lassen, um Melde und Quecke auf den Abfa