: Gabriele Tergit
: Nicole Henneberg
: Im Schnellzug nach Haifa
: Schöffling& Co.
: 9783731700050
: 1
: CHF 19.70
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wer die blutigen Konflikte der Gegenwart zwischen dem israelischen Staat und den Palästinensern verstehen will, der sollte, nein, der muss dieses Buch lesen. Denn es legt die politischen und kulturellen Wurzeln schon lange vor der Gründung des Staates Israel 1948 frei.« Claus-Jürgen Göpfert, Frankfurter Rundschau 1933 muss die Berlinerin Gabriele Tergit aus Deutschland fliehen und gelangt über Tschechien nach Palästina. Schreibend bahnt sie sich ihren Weg durch das Völkergewimmel in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv und erlebt ein Land im Aufbruch. In hier teils erstmals veröffentlichten Porträts und Reiseschilderungen vermittelt sie ein sinnliches Bild von der ungeheuren Vielfalt Palästinas in den 1930er Jahren, lange vor der Staatsgründung. Tergit trifft einen Fleischer aus Brest-Litowsk, der sich eine japanische Decke um den Bauch bindet und melancholisch Wurst schneidet;eine Berliner Zionistin, tüchtig und patent, die unermüdlich arbeitet und Feste organisiert, und einen Frommen aus Deutschland, den die jungen Leute auslachen. Zusammen mit den faszinierenden Fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek gewähren Tergits Geschichten Einblicke in eine Welt, in der manche Hoffnung zerbrach und doch vieles möglich schien. Erstmals um neunzehn ursprünglich von der Autorin für den Band vorgesehene Texte aus dem Nachlass erweitert, gewährt Im Schnellzug nach Haifa einen ganz neuen Einblick in die Entstehung des heutigen Israels.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spa?t in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

Überfahrt1933[1]


Im Jahr1933 sind in Palästina30327 Juden eingewandert, davon5515 aus Deutschland.1934:42359, davon6941 aus Deutschland.1935:61000, davon5464 aus Deutschland.17 Millionen Juden leben in der ganzen Welt,500000 in Deutschland. Also wanderte jährlich etwa ein Prozent aus Deutschland nach Palästina, aber aus der übrigen Welt nur ein Promille. In der ganzen Welt herrscht Not. Der Jude, der Kaufmann, der Vermittler, nicht zugelassen zu den krisenfesten Berufen, leidet wie der Arbeiter als Erster, die Krise trifft die Ungeschütztesten zuerst.1920 bis1934 kamen197000 Juden nach Palästina, davon über100000 aus Polen.

Auf dem Schiff nach Palästina fahren die Chaluzim[2], die Pioniere des Bodens, die friedlichen Eroberer des Landes, kommend vom Ende einer Zivilisation, wie die früheren Mönche gefahren sind, den Boden zu beackern und die Menschen einer neuen Gemeinschaft zu gewinnen, getragen von einer Idee. Die Kwuzah,[3] das Kollektiv zur Bearbeitung eines Stück Landes, ist ihr Kloster, und ringsum werden sie ihre neuen Methoden vortragen, um Frucht zu gewinnen. Die Pioniere tanzen und singen. Tanzen sie jüdisch? Singen sie jüdisch? Sie tanzen russisch. Sie singen russisch auf hebräisch. Sie sind kräftig, und sie haben den hellen, guten Blick, den die Beschäftigung mit der Erde gibt.

Auf dem Schiff fahren alte, gesetzestreue Juden, der Religion ergeben, dem Geist und der Vergangenheit.

Ein Rabbi aus einer kleinen amerikanischen Gemeinde spricht jiddisch den Menschen Mut zu: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich helfe dir, ich stärke dich, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.«

Auf dem Schiff fährt eine Familie aus Moskau, Vater, Mutter, Tochter von neunzehn, Sohn von dreizehn. Sie mussten400 Goldrubel zahlen, um Russland verlassen zu können. Verwandte im Ausland haben ihnen Geld gegeben und sie eingekleidet. Sie waren auf Reisen in Karlsbad und Italien, und so sehen sie auch aus. Bürgerliche Leute, denen es gut geht. Die Tochter ist sehr elegant, das Gesicht zurechtgemacht. Sie ist nicht einverstanden mit den Eltern, die nach Palästina fahren. Sie ist, elegant wie sie ist, dem Kommunismus zugetan. Sie ist recht unfreundlich, recht unliebenswürdig mit den Bürgern auf dem Schiff, die größtenteils keine mehr sind, sondern entwurzelte, nichts mehr besitzende deutsche Juden. Die Eltern sind still und liebenswürdig, benehmen sich wie gut erzogene wohlhabende Leute. Die Tochter ist neunzehn Jahre alt, das heißt, sie war vier Jahre alt, als die Sowjets die Macht übernahmen. Sie kennt nichts anderes. Die Eltern wollen wieder bürgerlich leben, nicht besser, aber bürgerlich. Die Kinder wollen kommunistisch leben, besser, aber kommunistisch. Sie wissen nicht mehr, wie es früher war. Und wir Leute, die schon vor1914 lebten, wir vergessen immer, wie wenig Menschen wissen, die1914 erst geboren wurden. Ein derartig junger Mann, ein halbwegs gebildeter Kaufmann aus Breslau, fragt mich: »Und wie ist es mit der Tschechoslowakei? Hat sie auch so durch den Versailler Vertrag gelitten?« Er weiß nicht, dass es ein Kaiserreich Österreich gab. Er weiß nicht, dass es aufgeteilt wurde. Er weiß nicht, dass Jugoslawien Serbien war. Und da meinen Staatsmänner, man könnte den Menschen von Problemen sprechen. Sie kennen nichts, was früher war, als