Die Leute aus der Umgebung von Wildmoos und Bachenau hatten sich zwar daran gewöhnt, den alten Janosch ausreiten zu sehen, aber noch immer blieben sie stehen, um ihm nachzublicken. Besonders den Kindern hatte er es angetan, weil er immer die Tracht des ungarischen Pferdehirten trug, die weiße Leinenhose, die hohen schwarzen Schaftstiefel, das hochgeschlossene weiße Leinenhemd mit der schwarzen Weste und den niedrigen schwarzen Filzhut. Wenn das Wetter nicht gar zu heiß war, hatte Janosch auch noch den weißgrundigen, buntbestickten Filzmantel umhängen.
Der Siebzigjährige wusste, dass er mit diesem fremdländischen Aussehen die Herzen der Kinder gewann.
Das war ihm sehr wichtig. Kinder, Pferde und auch andere Tiere waren das Glück seiner alten Tage. Seitdem er im Tierheim Waldi und Co. arbeitete, genoss er dieses Glück. Er war der stets hilfsbereite Freund der Kinder von Sophienlust geworden. Ihnen erzählte er am Lagerfeuer seine abenteuerlichen Geschichten aus der Puszta. Niemand hätte es gewagt, deren Wahrheitsgehalt anzuzweifeln, denn bei dem alten Mann verwischten sich Fantasie und Wirklichkeit so stark, dass er meistens selbst glaubte, alles, was die Kinder in so große Spannung versetzte, dass sie ihn am liebsten jeden Tag besucht hätten, irgendwann einmal selbst erlebt zu haben.
Andrea von Lehn hätte sich keinen besseren Tierpfleger als den alten Janosch wünschen können. Dass sie ihm erlaubt hatte, das ausgediente Turnierpferd Fortuna mitzubringen, dankte er ihr jeden Tag. Dieses eine Pferd war für ihn nun der Ersatz für viele Pferde, und er freute sich, dass es die Kinder von Sophienlust so geduldig durch das Freigehege trug.
Damit Fortuna mehr Auslauf hatte, musste Janosch sich immer wieder auf den Rücken der alten Stute schwingen. Sie passten gut zusammen, der alte bärtige Mann und das schon müde gewordene Pferd. Die Zeit, über Gräben und Hecken zu springen, waren für sie allerdings vorbei. Sie hielten mehr von einem gemächlichen Ritt.
Auch an diesem Tag waren die beiden unterwegs. Diesmal hatten sie das Tierheim weit hinter sich gelassen. Es machte dem alten Janosch viel Freude, über Waldwege und Lichtungen zu reiten. Bei einer Rast brauchte er Fortuna nicht anzubinden. Sie wartete auch geduldig, wenn er im Schatten ein Nickerchen machte, und sah ihn danach an, als wollte sie sagen: Ja, wir beiden Alten müssen uns immer wieder einmal ausruhen, aber wir haben noch sehr viel Freude am Leben.
Jetzt führte Janosch das Pferd einen schmalen Pfad entlang. Er schob den Filzhut etwas in den Nacken und sagte: »Es wird wohl höchste Zeit, umzukehren, Fortuna. Wir sind schon viel zu lange unterwegs. Ich muss dir gestehen, dass ich nicht einmal weiß, wo wir hier sind. Aber sobald wir auf eine Lichtung kommen, werde ich mich schon wieder auskennen. Und ein gutes Pferd findet immer wieder in seinen Stall zurück.«
Fortuna blähte die Nüstern auf. Sie hatte es gern, wenn Janosch mit ihr sprach, und er war überzeugt, dass sie ihn verstand.
»Da, schau, wir sind schon aus dem Wald heraus.« Janosch blieb stehen. »Ist das ein schöner Platz! Ja, so etwas kann man nur finden, wenn man aufs Geratewohl losreitet und …« Er brach ab und sah zu einem Gebüsch, das sich am Rand der Lichtung hinzog. Dort schimmerte etwas auffallend Helles. Weil es sich bewegte, konnte er es sogar mit seinen nicht mehr allzu guten Augen sehen.
»Das ist doch ein Kind, Fortuna. Ja, ein kleines Mädchen.« Janoschs Stimme klang aufgeregt. »Was tut ein kleines Mädchen hier in dieser Einsamkeit, mitten im Wald?«
Fortuna wieherte unterdrückt. Sie wollte nicht immer stumm bleiben. Wenn Janosch schon so gesprächig war, dann musste sie ihm auch ab und zu eine Antwort geben.
»Ja, ja, du wunderst dich auch darüber, dass wir hier ein Kind entdecken, Fortuna. Aber jetzt ist es erschrocken. Du hättest doch lieber still sein sollen. Bleib hier stehen. Vor dir großem Pferd muss das kleine Mädchen ja erschrecken. Aber vor mir wird es sicher keine Angst haben.« Das sagte Janosch aus voller Überzeugung. Er war ja gewöhnt, dass die Kinder Vertrauen zu ihm hatten.
Aber für das kleine Mädchen war der alte Mann ein Fremder. Noch dazu einer in einer äußerst ungewohnten Aufmachung. Es sprang auf und wollte davonlaufen. Aber da musste es sich noch einmal bücken, um einen kleinen braunen Dackel auf die Arme zu nehmen.
Inzwischen war Janosch schon näher gekommen und rief: »Lauf doch nicht weg, ich tu dir ja nichts. Du brauchst bestimmt keine Angst vor mir zu haben.« Das sagte er in seinem noch immer nicht akzentfreien Deutsch.
Das kleine Mädchen blieb stehen und drückte seinen Dackel fest an sich. Es hatte ein weißes Kleid an, das mit bunten Blumen bedruckt war. Sein blondes gelocktes Haar hatte es über den Ohren mit roten Spangen zusammengehalten, sodass die Schwänzchen vom Kopf abstanden. Das gab dem hübschen Mädchen ein besonders niedliches Aussehen. Große braune Augen blickten Janosch nun mehr erstaunt als ängstlich an.
»Wer bist du?«, fragte das kleine Mädchen, als Janosch vor ihm stehen geblieben war.
»Ich bin ein alter Mann, der kleine Kinder sehr gernhat.«
»Tust du mir wirklich nichts? Und meinem Gustl auch nicht?« Das Mädchen drückte den Dackel so fest an sich, dass er unruhig wurde.
»Nein, ich tue euch bestimmt nichts. Heißt dein Dackel denn Gustl?«
Das Mädchen nickte.
»Und wie heißt du?«
»Paulinchen.«
»