: Sabine Trinkaus
: Henriette - Ärztin gegen alle Widerstände Roman
: Gmeiner-Verlag
: 9783734930188
: Romane im GMEINER-Verlag
: 1
: CHF 8.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 451
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Henriette 1834 auf Sylt das Licht der Welt erblickt, scheint ihr ein Dasein im Schatten eines Mannes vorbestimmt. Allerdings steckt sie ihre Nase in Romane und lernt heimlich Latein, statt sich auf ihre hausfraulichen Pflichten vorzubereiten. Weil ihre Familie in Not gerät, fügt sie sich in die Ehe mit einem reichen Gutserben, der sich als gewalttätiger Trinker entpuppt. Mittellos flieht sie nach Berlin. In der pulsierenden Metropole nimmt die beharrliche Henriette ihr Schicksal selbst in die Hand: Sie will nach Amerika, um Zahnärztin zu werden!

Sabine Trinkaus wuchs im hohen Norden hinter einem Deich auf. Zum Studium verschlug es sie ins Rheinland, wo sie nach internationalen Lehr- und Wanderjahren sesshaft und heimisch wurde. Seit 2007 schreibt sie Kurzgeschichten, Kriminalromane und Thriller, außerdem erschienen Hörspiele und Theaterstücke aus ihrer Feder. Die beeindruckende Lebensgeschichte von Henriette Hirschfeld-Tiburtius inspirierte sie zu ihrem ersten historischen Roman.

Sylt, 1838


Immer wieder fauchten zornige Böen vom Meer über die Insel – letzte Ausläufer des Sturms, der in der Nacht über Sylt gewütet und unheimlich um das Strohdach des Pastorats der St. Niels­kirche geheult hatte. Henriette hatte sich trotzdem nicht gefürchtet, fast nicht jedenfalls. Sie war immerhin schon vier und – obwohl klein und zart geraten – ziemlich mutig und stark.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Himmel, an dem der Wind die grauen Wolken in immer kleinere Fetzen riss. Tastete gedankenverloren nach den dunklen Strähnen, die sich aus ihrem langen, dicken Zopf gelöst hatten. Auch das war das Werk des Windes, keine Frage, denn es war ein tadelloser Zopf gewesen. Sie hatte ihn ganz allein geflochten. Normalerweise half ihr Mutter dabei. Aber als diese gerade dabei gewesen war, Henriettes Haar mit kräftigen Strichen zu bürsten, war Emilie in ihrem Bettchen aufgewacht und hatte geplärrt.

Darum hatte Mutter sich kümmern müssen, denn Emilie war noch sehr klein, gerade mal zwei Jahre alt. Anders als Henriette konnte sie noch gar nichts allein. Während Mutter für Emilie Milch aufgewärmt hatte, hatte Henriette einfach allein weitergemacht und sich einen sehr guten Zopf geflochten. Mutter hatte ein bisschen skeptisch geschaut, als sie ihr stolz das Ergebnis präsentierte. Aber dann hatte sie Henriette mit einem Lächeln dafür gelobt, dass sie ein so braves Mädchen war, und ihr erlaubt rauszugehen, um im Garten des Pastorats auf Paul zu warten.

Paul war ihr Freund. Sie spielten jeden Tag zusammen, meistens holte er sie direkt nach dem Frühstück ab. Heute allerdings ließ er auf sich warten. Während Henriette die lästigen Strähnen zurück in den Zopf zu stopfen versuchte, wanderte ihr suchender Blick über den schmalen Sandweg. Wo blieb er denn nur? So langsam wurde ihr die Warterei zu bunt! Sie erhob sich von dem kleinen Gartenmäuerchen, machte ein paar unschlüssige Schritte. Vielleicht sollte sie zum Hof von Pauls Vater gehen, um nachzuschauen, wo er steckte. Aber dort würde sie bestimmt Harm in die Arme laufen. Der war Knecht bei Pauls Vater. Und ein Riese – bestimmt zwei Meter groß und breit wie ein Schrank. Er war immer grummelig, konnte Kinder nicht leiden. Henriette hatte keine Lust, sich anraunzen zu lassen.

Sie drehte sich um, ging wieder ein paar Schritte, nun in die andere Richtung, und dachte daran, dass es ihr streng verboten war, allein über die Insel zu stromern. Das durfte sie nur mit ihren großen Brüdern oder eben mit Paul. Aber Carl und Otto hockten drin in Vaters Arbeitszimmer, weil sie Unterricht hatten. Und Paul ließ sich ja wirklich bitten heute, es war zum Auswachsen. Es war wohl eigentlich nichts dagegen einzuwenden, wenn sie ein kleines Stückchen vorging – nur bis zum Haus vom alten Brodersen vielleicht, das war ja nicht weit. Dort konnte sie beim Warten wenigstens das Tor anschauen, das kein gewöhnliches Tor war. Es bestand nämlich nicht aus Holz, sondern aus weißen, sonnengebleichten Knochen. Walknochen waren das, der Kiefer eines Wals, riesengroß – das Tor war so hoch, dass sogar Harm mühelos aufrecht darunter hindurchspazieren konnte.

Der alte Brodersen hatte es gebaut, weil er früher Walfänger gewesen war. Genau wie Henriettes Großvater Teunis Hansen Teunis. D