: Dunya Mikhail
: Das Vogel-Tattoo Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104915449
: 1
: CHF 18.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein ergreifender Roman über eine jesidische Familie im Nordirak, die durch den IS auseinandergerissen wird. Helen, eine junge Jesidin, lebt mit ihrer Familie in einem abgelegenen Bergdorf. Hier stehen die Häuser Tag und Nacht offen, und wenn Besuch erwartet wird, kommen alle Dorfbewohner zusammen. Für ihre große Liebe verlässt Helen ihr Heimatdorf, um im nahen Mosul eine Familie zu gründen. Doch als der IS über das Land zieht, verschwindet Helens Mann. Beim Versuch, ihn zu finden, lässt sie ihre Kinder zurück und gerät selbst in die Hände der Terrororganisation. Als junge Frau verliebt sich Helen in den Journalisten Elias. Die beiden gründen eine Familie und besuchen mit ihren Kindern noch regelmäßig das kleine Dorf Halliqi, in dem Helen aufgewachsen ist, und in dem ihre Eltern noch leben. Halliqi liegt hoch oben auf einem Berg, es ist schwer zu erreichen und auf keiner Landkarte verzeichnet. In der kleinen Dorfgemeinschaft gibt es weder Telefone noch Fernseher. Das Leben folgt dem ruhigen Rhythmus der Natur, und die Menschen helfen einander, als wären sie eine große Familie.  Al der IS den Nordirak überfällt, verschwindet Helens Mann Elias. Verzweifelt macht sie sich auf den Weg in die Redaktion der Zeitung, für die er arbeitet. Ihre Kinder muss sie zurücklassen, auch die Tochter, die gerade ein paar Wochen alt ist. Die Zeitungsredaktion ist längst von Männern des IS besetzt, und Helen gerät selbst in Gefangenschaft. Sie wird an verschiedene Männer verkauft, bis ihr schließlich die Flucht gelingt. Doch sie kann das Land nicht ohne ihre Kinder verlassen.  Eine Geschichte von unsagbarem Leid, übermenschlichem Mut und dem unerschütterlichen Willen einer Frau, ihre Familie wieder zu vereinen. Aus dem Arabischen übersetzt von Christine Battermann Nominiert für den International Prize for Arabic Fiction 

Dunya Mikhail arbeitete als Journalistin für den »Baghdad Observer«, bis sie angesichts zunehmender Bedrohungen durch die irakischen Behörden zunächst nach Jordanien und dann in die Vereinigten Staaten floh. Sie wurde mit dem UN Human Rights Award for Freedom of Writing und dem Arab American Book Award for Poetry ausgezeichnet. Heute lebt und arbeitet sie in Michigan.

1. Nummer 27


Die Mitglieder der Organisation hatten den gefangenen Frauen sämtliche Habseligkeiten abgenommen, auch ihre goldenen Eheringe. Helen allerdings besaß keinen Ring, sondern hatte stattdessen eine Tätowierung auf dem Finger, die einen Vogel zeigte. Während sie noch wie gebannt darauf starrte, schrie plötzlich einer der Männer: »Siebenundzwanzig! Nummer siebenundzwanzig!« Erst realisierte sie nicht, dass sie gemeint war, doch als der Mann erneut losbrüllte, dachte sie, er sei wütend auf sie, weil sie ihren Platz in der Schlange verlassen hatte und zu Amina gerannt war. Sie hatte ihren Augen nicht getraut, als sie ihre beste Kindheitsfreundin Amina auf der anderen Seite der Halle hatte stehen sehen, und auch Amina hatte ungläubig den Mund aufgerissen. Aber sie hatten sich kaum ein paar Sekunden weinend in den Armen gelegen, da schrie der Mann schon wieder. »Siebenundzwanzig ist verkauft!« Er zeigte mit der Hand auf Helen. In der anderen hielt er einen Karton mit den Handys der gefangenen Frauen. »Lass sie los!«, rief Amina mit kaum vernehmbarer Stimme. Im selben Moment begannen sämtliche Handys im Karton zu klingeln. Die Angehörigen machten sich Sorgen, weil niemand auf ihre Kontaktversuche reagierte.

Der Mann in seinem schwarzen, bis zu den Knien reichenden Hemd und den oberhalb der Fußknöchel endenden Hosen versetzte Amina einen so heftigen Stoß, dass sie fiel. Helen beugte sich zu ihr hinunter, um ihr aufzuhelfen, doch der Mann packte sie an der Hand und zog sie in einen anderen Raum, wo er sie zu Boden stieß. Dann ging er hinaus und verschloss die Tür hinter sich. Ringsum saßen weitere Frauen auf dem Boden, alle mit gesenkten Köpfen. Jede von ihnen hatte ein Etikett an ihrer Kleidung, auf dem eine Zahl stand, so wie weit entfernte Sterne bloß noch mit Ziffern bezeichnet werden. Die einzige Frau ohne Nummer saß an einem Schreibtisch und reichte Helen ein Dokument. »Das ist deine Heiratsurkunde. Dein Ehemann kommt gleich.«

Ohne einen Blick daraufzuwerfen, gab Helen es ihr zurück. »Ich bin schon verheiratet.«

»Abu Tahsin hat dich online gekauft, er ist bereits auf dem Weg hierher«, sagte die Frau.

 

Von einem Markt, auf dem man Frauen verkaufte, hatte Helen noch nie gehört. Sie hätte so etwas noch nicht einmal für möglich gehalten. Obendrein irritierte sie, dass dieser Markt in einer Schule abgehalten wurde. Laut dem Transparent vor dem Eingang hieß sie »Blumen von Mosul«, und sie hatte große Ähnlichkeit mit der Grundschule, die sie selbst mit ihrem Zwillingsbruder Azad besucht hatte. Nicht einmal ihrer gestrengen Direktorin Sitt Ilham hätte man die Vorstellung von einem Frauenmarkt begreiflich machen können. Für Sitt Ilham war schon Kaugummikauen unmoralisch, sogar während der Pause. Azad hatte deshalb einmal einen Verweis von ihr erhalten, als sie ihn auf dem Schulhof dabei erwischte. Er, ein großer Liebhaber der Marke mit dem Pfeil auf der Packung, war davon ausgegangen, dass es mit Kaugummi nicht anders war als mit den Süßigkeiten, die die übrigen Schüler in der Pause konsumierten, ohne je Probleme zu bekommen. Und nun stand er entsetzt in Sitt Ilhams Büro. Vielleicht würde sie ihm mit der scharfen Kante ihres Lineals auf die Hand schlagen, wie sie es vor seinen Augen schon bei ein paar anderen Schülern getan hatte, die nach dem Klingeln nicht gleich in ihre Klasse gegangen waren. Schließlich hatten sie vor Ankunft des Lehrers auf ihren Plätzen zu sein, um respektvoll aufstehen zu können, wenn er den Raum betrat. Doch als Sitt Ilham am Ende der Befragung erfuhr, wer ihm das Kaugummi gegeben hatte, lächelte sie zu Azads Erstaunen plötzlich. »Grüß deinen Onkel Herrn Murad von mir, und sag ihm, Kaugummikauen ist verboten!«, trug sie ihm auf. »Und jetzt ab in deine Klasse!«

Dieser Raum hier mit dem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch, an dem jetzt die Frau ohne Nummer saß und den Verkauf der Gefangenen organisierte, hatte durchaus Ähnlichkeit mit Sitt Ilhams Büro. »Zieh das hier an! Gleich kommt der Fotograf«, sagte sie gerade und reichte einer Gefangenen eine Tüte. Helen wunderte sich, welch widersprüchliche Kleidungsstücke die Mitglieder der Organisation ihnen aufzwangen. Zuerst hatten sie einen schwarzen Niqab tragen müssen, der sie bis auf die Augen komplett verhüllte, nun