1Quincy
8. Dezember
Ich habe den Supermarkt erst vor knapp fünf Minuten betreten, da höre ich »Oh, Quincy!«
Als ich mich umdrehe, steht Mrs Huntington vor mir, eine weiße Frau um die Sechzig in Pelzmantel und mit Perlen behängt. Unter dem Mantel trägt sie eine taubenblaue Bluse und einen dazu passenden Rock. Sie ist die Eigentümerin vonHuntington’s, einer Reihe Luxusferienhäuser, die sie hier in White Oak vermietet.
»Hallo, Mrs Huntington. Wie geht es Ihnen?«, sage ich und bin überrascht, als sie ihre behandschuhte Hand auf meinen Arm legt.
Bedrückt blickt sie mich an. Ich befürchte schon, dass sie mir gleich erzählen wird, ihr Mann sei gestorben, denn er ist seit Jahren krank, doch dann sagt sie: »Ich habe das von dir und Kali gehört, du Armer.«
Und da ist es. Wir haben uns vor wenigen Monaten getrennt, aber so etwas spricht sich schnell herum, vor allem in einer Kleinstadt wie White Oak.
»Was ist denn passiert?«, bedrängt sie mich nun regelrecht und macht noch einen Schritt auf mich zu, sodass mir der blumige Geruch ihres Parfüms in die Nase steigt. »Ihr wart doch seit Jahren zusammen, nicht wahr? Ich habe euch immer für ein so hinreißendes Paar gehalten.«
Ich zucke mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, dabei habe ich den vertrauten Kloß im Hals, wie immer, wenn ich an Kali denke. Trotz allem fehlt sie mir. Und wie soll ich das Ganze hinter mir lassen, wenn mich ständig jemand auf sie anspricht? Alle wollen wissen, wieso wir uns getrennt haben, doch wenn ich erzählen würde, was tatsächlich vorgefallen ist, wäre es mit Kalis Ruf als süßes unschuldiges Mädchen vorbei. Um ehrlich zu sein, habe ich tatsächlich darüber nachgedacht, die Wahrheit zu erzählen. Aber ich könnte wetten, dass Mrs Huntington völlig schockiert mitten im Supermarkt umfallen würde, wenn ich offen zu ihr wäre.
»Es sollte nicht sein«, erwidere ich nur und deute auf den vollen Einkaufskorb in meiner Hand. »Cameron sitzt draußen im Wagen, also gehe ich mal lieber bezahlen.«
»Oh, natürlich, mein Lieber, dein Bruder soll nicht unnötig warten. Und ich bin sicher, du findest eine andere bezaubernde junge Dame als Begleiterin für den Winterball.« Ihre Stimme hebt sich um eine Oktave. »Es freut mich so sehr, dass der Ball in diesem Jahr von deiner Familie ausgerichtet wird.«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Auch wenn ich Mrs Huntington ganz nett finde, erkenne ich an ihrem Tonfall, dass sie lügt.
Der Winterball ist das Event des Jahres. Er findet immer am dreiundzwanzigsten Dezember im Renaissanceballsaal des Tudor-Herrenhauses statt, das ich früher immer für ein Schloss gehalten habe. Einst gehörte es einer superreichen Familie, die es im neunzehnten Jahrhundert der Stadt überlassen hat. Seitdem ist der Winterball zur Tradition geworden.
Wir sind eine der wenigen Schwarzen Familien hier und bisher wurde der Ballnoch nie von einer Schwarzen Familie organisiert, obwohl sich meine Eltern jedes Jahr darum bemüht haben. Doch in diesem Jahr hat das Komitee zugestimmt.
»Ja, wir sind sehr aufgeregt«, erwidere ich freundlich und setze mich in Bewegung, ihre behandschuhte Hand rutscht von meiner Daunenjacke. »Grüßen Sie Mr Huntington von mir.«