Der Schwarzwald ist ein mystischer Ort mit seinen einsamen Tälern, tiefen Schluchten, ungezähmten Bächen und kristallklaren Seen. Wo mächtige Weißtannen und Fichten dicht beieinanderstehen, wird das Licht jedoch verschluckt, lange bevor es die Erde erreicht. Schattengewächse tasten sich dort über den Boden – entschlossen, alles unter sich zu begraben, und genährt durch das, was der Zerfall hervorbringt.
Der Kreislauf des Lebens ist ein ewiger.
Am Morgen des 29. März 1815 schien der Wald Anneliese daran erinnern zu wollen. Die ersten Frühjahrsstürme hatten ihre Spuren hinterlassen. Stolze Kiefern und Buchen waren umgeknickt oder entwurzelt worden. Wegweiser. Orientierungshilfen, Freunde, die Anneliese von klein auf kannte. Tiefe Löcher klafften nun an Stellen, von denen aus die Bäume Jahrzehnte überblickt hatten. Frühmorgendlicher Nebel hing wie ein feuchter Schleier in der Luft. Zwischen tiefhängenden Ästen machten dicke Tautropfen gesponnene Spinnweben sichtbar. Noch schien es, als verweigere der Winter seinen Rückzug. Er schlich sich aus. Leise, bedächtig, vor allem aber kalt und nass. Bei genauem Hinsehen erkannte man wiederum an einigen Ästen und Zweigen bereits feine Erhebungen und durchschimmerndes, frisches Grün. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern würde. Unter der ruhigen, trüben Fassade sammelten Pflanzen und Tiere ihre Kräfte für den Frühling.
Anneliese staunte immer wieder darüber, wie selbstverständlich sich der Wald veränderte. Sie mochte alle Jahreszeiten, wenn auch der Transport des Holzes im Sommer angenehmer war als im Winter.
Sie ging an der Seite ihres kleinen Bruders Kasper neben dem schwer beladenen Fuhrwerk her, das über den unbefestigten Weg ratterte. Der Regen der vergangenen Nacht hatte den Waldboden aufgeschwemmt, Furchen und Pfützen geformt, die das Vorankommen erschwerten. Mit weiten, schmatzenden Schritten trotzte der Neunjährige dem unwegsamen Gelände. Durch seine geringe Körpergröße war es ihm fast unmöglich, dem teils sumpfigen Untergrund zu entgehen. Unlängst war er bis zu den Knien im Schlamm versunken. Seine Jacke war übersät mit braunen Sprenkeln. Wann immer sich die feuchte Erde wieder an sein Bein saugte, schimpfte und donnerte er. Die Bedingungen an diesem Morgen waren sicher nicht die besten, aber für März auch nicht ungewöhnlich.
In regelmäßigen Abständen schaute sich Johannes Holl nach seinen beiden Kindern um, grinste ihnen über seine Schulter hinweg zu und klopfte seine derben Stiefel an Steinen ab, damit sich die Erdklumpen lösten, die wie festgeleimt waren. Annelieses Vater war breit gebaut. Seine muskulösen Schultern zeugten von harter körperlicher Arbeit. Ein Holzfäller musste unverwüstlich und kräftig sein. Zweifellos entsprach Johannes Holl diesem Kriterium – ebenso wie Tarik, sein gutmütiger Dunkelbrauner mit der hellen Mähne. Seit Jahren zog der Gaul zuverlässig die schweren Stämme aus dem Wald und den Holzwagen ins Dorf. An diesem Morgen hatten die beiden allerdings mehr Mühe als sonst, voranzukommen, so dass Anneliese und Kasper tatkräftig mitanpacken, schieben und ziehen mussten.
Der Saum von Annelieses Kleid war vollgesogen, ihr Rock schwang schwer wie Blei um ihre Hüften. Doch Kaspers Wutausbrüche lenkten sie von diesem Umstand ab. Schmunzelnd beobachtete sie, wie er zeternd und schnaubend seinem Unmut Luft machte. Mitleid hatte sie nicht. Immerhin hatte er den Vater angebettelt, sie begleiten zu dürfen. Obwohl dieser ihn eindrücklich gewarnt hatte: Der Wald war zu dieser Jahreszeit ein anderer. Und Kasper war klein für sein Alter.
Seine körperliche Zartheit hatte seiner Mutter Marva früher große Sorge bereitet, denn beinahe hätte er es nicht über das Kleinkindalter hinausgeschafft. Anneliese erinnerte sich daran, wie sie alle an Halsbräune litten. Während ihre Eltern und sie sich rasch erholt hatten, blieb Kasper monatelang ans Bett gefesselt. Damals hatte ihre kräuterkundige Mutter aufgefahren, was die Heilkunst hergab, um ihren Sohn vor dem Tod zu bewahren. Ein Trunk aus Senfölen unterschiedlicher Kreuzblütler zwang die niederträchtige Krankheit dann endlich zum Rückzug.
Inzwischen war Kaspers Gesundheit stabiler geworden und Marva weniger ängstlich, was ihn betraf. Trotzdem hielt sie nach wie vor schützend ihre Hand über ihn, als fürchtete sie, ihren Sohn doch noch zu verlieren. Auch seinen heutigen Wunsch, Anneliese und Johann helfen zu dürfen, hatte sie ihm zunächst verweigert. Aber ihr kleiner Sohn war hartnäckig geblieben. Kasper hatte die gleichen dunklen Augen, das gleiche dunkle Haar wie sie, während Anneliese ganz nach dem Vater schlug: helles Haar und grüne Augen. Kein sattes Grasgrün, sondern vielmehr die Farbe von frischen, jungen Keimlingen, die sich neugeboren der Sonne entgegenreckten.
Anneliese war mittlerweile sechzehn. Kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau. Weder Raupe noch Schmetterling. Ihre Metamorphose hatte noch nicht stattgefunden, und glücklicherweise drängten ihre Eltern sie zu nichts. Es blieb ausreichend Zeit, Anneliese auf die Pflichten einer Haus- und Ehefrau vorzubereiten.
Bis es so weit war, gewährten sie ihren Interessen Vorrang, zu denen unweigerlich der Wald gehörte. So waren Anneliese die Fällarbeiten des Vaters lange vertraut. Kasper hingegen war erst im vergangenen Spätsommer darin unterwiesen worden. An einem schwülwarmen Tag, an dem die Luft von Mückenschwärmen geschwängert gewesen war und die hiebsreifen Bäume in vollem Saft gestanden hatten. Üblicherweise wurden sie im Winter geschlagen, wenn keine geschlossenen Blätterkronen die Sicht minderten. Für den neuen Dachstuhl des Gemeindesaals von Rietbach war jedoch zusätzliches Holz benötigt worden, und Johannes hatte eine Ausnahme gemacht.
Das Geld hatten sie gut gebrauchen können. Die Kinder hatten davon jeweils ein Paar feste Schuhe bekommen, und es hatte sogar für den gusseisernen Ofen noch gereicht, auf den Marva schon so lange gehofft hatte.
Prüfend überblickte Anneliese die geschälten Baumstämme, die wie rohes Fleisch im aufkommenden Tageslicht glänzten. Ihr Vater hatte sie geteilt, penibel auf den Anhänger gestapelt und sie mit einem breiten Lederriemen festgezurrt. Bisher hielten sie dem Ruckeln und Holpern stand. Kurz schweifte ihr Blick über die Blausterne, die den Waldboden zu den Seiten bedeckten und nun wie Pfeile durch den Dunst stachen. Jahr für Jahr wuchsen sie zwischen den weißen Buschwindröschen und hoben sich vom Braun der Erde ab, als wäre es ihre heilige Pflicht, dem Wald Farbe zu verleihen. Ein Bussard flog kreischend über ihren Wagen hinweg und segelte zur Lichtung auf der anderen Seite der Bergkuppe.
»Mir ist kalt«, seufzte Kasper gedehnt.
»Es ist nicht mehr weit.« Anneliese legte ihm ihren Schal um die Schultern und rubbelte über seine Oberarme. Ihr Atem stieg als dampfende Wolke zwischen ihnen auf. Anneliese war ausgekühlt, wagte es aber nicht zu jammern. Ihr Vater jedenfalls beklagte sich nie und er war ihr Maßstab.
»Daheim wartet auf uns ein herrliches Feuer, und bestimmt hat Mutter eine köstliche heiße Suppe zubereitet.«
»Mit Kartoffeln?« Kasper schaute hoffnungsvoll zu ihr auf.
»Mit reichlich Kartoffeln.« Der Gedanke an die gemütliche Stube wärmte Anneliese, und sie hielt ihn fest, schlug sich den Mantelkragen hoch und widmete sich wieder ihrer Aufgabe: die Ladung zu kontrollieren und darauf zu achten, dass nichts vom Anhänger rutschte. Das forderte ihre volle Konzentration. Zwar hatten sie jüngst das letzte Stück des Weges erreicht, aber es war auch leicht abschüssig, dabei zerfurcht und zertreten, so dass sich die großen Speichenräder immer wieder in der durchtränkten Erde festfuhren.
Das fortwährende Versinken von Tariks Hufen hatte ihn erschöpft. Erneut machte es ihn bewegungsunfähig, als würden sich unsichtbare Hände an ihn klammern und ihn hinunterziehen wollen. Der Wagen ruckelte, und Anneliese schob. Kasper lehnte sich mit seinem Gewicht dagegen, während der Vater Tarik bei den Zügeln packte.
»Vorwärts«, spornte er ihn an. Laut und bestimmend, und gemeinsam schafften sie es, Tarik anzutreiben. Die Räder rollten wieder.
Anneliese kannte die Hindernisse, mit denen sie von Zeit zu Zeit zu tun hatten. Seit ...