»Eine große Halle und nur ein paar einfache Sitzgelegenheiten drin; das beruhigt ungeheuer.«
»Nordseekrabben« oder Die moderne Bauhaus-Wohnung4
1 / Die moderne Bauhauswohnung
Am 9. Januar 1927 erschien in denMünchner Neuesten Nachrichten eine kurze Geschichte von Bertolt Brecht:»Nordseekrabben« oder Die moderne Bauhaus-Wohnung. Sie handelt von dem Kriegsheimkehrer Kampert, Ingenieur bei der A. E. G., der sich mit seiner Frau eine moderne Wohnung eingerichtet hat. Eines Tages lädt er seinen ehemaligen Leutnant Müller und den namenlosen Erzähler, mit denen er vor wenigen Jahren noch im Schützengraben gelegen hatte, zur Besichtigung ein. Müller trägt eine Büchse Nordseekrabben als Gastgeschenk bei sich, da Kampert unter den widrigen Umständen der Front immer von Delikatessen geträumt habe.
Die Diele, in der Kampert seine Gäste empfängt, erweist sich als ein weiß gestrichener Raum, ausgestattet mit zwei amerikanischen Liegestühlen und einem Sonnensegel. Auf dem Boden liegt eine dicke Matte. Kampert erläutert: »Ich dachte mir: eine große Halle und nur ein paar einfache Sitzgelegenheiten drin; das beruhigt ungeheuer.« Müller reagiert angesichts der ambitionierten Schlichtheit konsterniert: »Ja, man wohnt eigentlich wie ein Schwein, furchtbar unüberlegt.«
Die drei Männer nehmen einen Drink. Frau Kampert erscheint und schlägt vor, die weiteren Räume der Wohnung unter ihrer fachkundigen Führung zu besichtigen. »Es sei ihnen darauf angekommen«, erläutert sie, »die Wohnung so passend wie möglich zu gestalten. Warum solle man nicht Wohnungen ebenso harmonisch gestalten wie irgendein Abendkleid? Die meisten Leute liefen ihr Leben lang zwischen schrecklichen Möbelansammlungen herum und ahnten nicht, wie gründlich sie schon beim Aufstehen jeden Morgen ihren eigenen Geschmack verdürben.« Müller, von so viel Wohlüberlegtheit unangenehm berührt, beginnt sich zu betrinken. Der Rundgang führt über eine eiserne Wendeltreppe in die oberen Räume. Das Schlafzimmer erweist sich als ein kleiner, einfacher Raum, nur von einem Oberlicht erhellt, mit einem Bett, einem Stuhl, einem »einfachen glasierten Waschbecken« und einer »gewöhnlichen Kamelhaardecke« über dem Bett sparsam bestückt. Der Arbeitsraum, durch einen Chintzvorhang vom Schlafraum getrennt, beherbergt einen Tannenholztisch, einen harten Sessel, Tannenholzregale mit Büchern und »eine harte, niedere Chaiselongue«. Es folgen ein weiteres Gemach, in dem außer dem Bechsteinflügel alles lila ist, eine Garderobenkammer mit hellgrün gestrichenen Einbauschränken, ein Badezimmer, in dem nichts fehlt, und eine hygienisch einwandfreie Küche. Sie landen in einem Speisezimmer mit kahlen Wänden und einem runden Eichentisch.
Müller trinkt weiter, »immer mehr Whisky mit immer weniger Soda«, was der Erzähler wie folgt kommentiert: »Es war die Wohnung, die Müller so aufreizte. Er war voll und ganz im Unrecht damit. Es war eine sehr hübsche Wohnung; sie war keineswegs protzig. Aber ich glaube, Müller konnte einfach diese vorsätzliche Harmonie und diese reformatorische Zweckdienlichkeit nicht mehr aushalten.«
Müller, von der stolz vorgeführten absichtsvollen Einfachheit aufgebracht, entwickelt einen Schlachtplan. Als sich Frau Kampert zurückzieht, lenkt er das Gespräch auf Nordseekrabben in der Büchse, die er jetzt gerne essen würde. Da er Kampert sein Gastgeschenk noch nicht überreicht hat, verlässt dieser die Wohnung, um welche zu besorgen.
Müller lächelt finster und schreitet zur Tat. Er schleudert seine Jacke in die Ecke und gibt seinen umstürzlerischen Impulsen ungehemmt nach. In kürzester Zeit verwandelt er die reine, lichte Wohnung in eine Art Höhle mit gemütlichen Ecken, klebt Illustrationen, die er aus herumliegenden Zeitschriften herausreißt, an die leeren Wände. Zu guter Letzt hält er eine bemerkenswert klare Rede, die wie folgt endet: »Es ist dem Menschen nicht gestattet, vermittels Sonnensegeln und Bechsteinflügeln in den Himmel zu wachsen. Eine Wohnung ist dort, wo ein Mensch seinen alten Kragen in eine Ecke geworfen hat. So hat Gott es bestimmt, nicht ich, Müller, basta. Und jetztist es eine Wohnung.«
Dann holt er die mitgebrachte Dose Nordseekrabben aus seiner Jackentasche, öffnet sie mit einem herumliegenden Brieföffner und fängt an zu essen. Als Kampert mit den eigens gekauften Krabben zurückkommt, blickt ihn Müller »unsicher und schuldbewußt, traurig« mit rotem Kopf an und sagt: »My home is my castle.« Er sagt es, »weil es nicht herpaßte«, so der Erzähler, und weil Müller »eine abgrundtiefe Begierde nach Unzusammenpassendem, Unlogischem und Natürlichem« in sich gespürt habe.
Vielleicht schlug bei Müller die Wehmut über den Verlust einer Zeit, in der Lampen noch keine Leuchtkörper waren, Stühle noch keine Sitzgelegenheiten und Teppiche noch keine Bodenbeläge, in rabiate Zerstörungswut um. Vielleicht spielte auch Scham darüber eine Rolle, diese Wehmut überhaupt zu verspüren. Müllers Botschaft an den Freund aber war unmissverständlich: lieber unaufgeräumt-behaglich als allzu passend geordnet, lieber auf weichem Plüsch als auf hartem Stahl.
Brechts Zuneigung gehört, wie die kleine Geschichte vermuten lässt, nicht Kampert, der die traditionellen Wohnformen verwirft und im Namen des Fortschritts radikale Einfachheit propagiert, sondern Müller, der gemütliche Ecken bevorzugt. Wie Müller lehnt Brecht den eskapistischen Individualismus fortschrittlich gesinnter Bürger und ihren Rückzug in absichtsvoll karg möblierte Wohngehäuse vehement ab. Über dem persönlichen Wohlbefinden des Einzelnen hat das Wohl aller zu stehen. Ästhetisch fortschrittlich gesinnte Bürger wie Kampert aber sind, so Brecht in »Nordseekrabben«, für den politischen Kampf ein für alle Mal verloren. »Diese Sorte kann man durch kein gütliches Zureden mehr aus ihren gekachelten Badezimmern herauslocken, nachdem sie einige Jahre ihres Lebens in verschlammten Schützengräben herumliegen mußten.«5
Vorbild der Kampert’schen Wohnung war, so vermutete Brechts erste Mitarbeiterin, die Autorin Elisabeth Hauptmann, in ihrem Tagebuch, die Wohnung Friedrich Kroners. Kroner war seit 1926 Chefredakteur der MonatszeitschriftUhu, die von 1924 bis 1934 im Berliner Ullstein Verlag erschien. Lakonisch knapp und nicht selten satirisch wurden in dem beliebten Zeitgeist-Magazin in Form von Fotoromanen, Erlebnisberichten und Interviews wichtige Themen der Zeit behandelt.Lieschen Neumann will Karriere machen, Was Männer so reden, Leben mit der Schreibmaschine, Wie man ein Liebesverhältnis löst, Eine tüchtige Hausfrau muß 41 Berufe können!, Blond oder brünett? Urlaub von der Ehe – so einige der verheißungsvollen Titel.
Es hätte aber auch das Domizil des Theaterregisseurs Erwin Piscator in Berlin-Wilmersdorf für die Brecht’sche Bauhauswohnung Pate stehen können, der als Landsturmmann an der Ypern-Front den Schmutz des Schützengrabens wie Kampert aus eigenem Erleben kannte. Piscator hatte sich ab 1920 als Erfinder des Proletarischen Theaters in Berlin etabliert und sich 1927 seine 5-Zimmer-Wohnung von Marcel Breuer einrichten lassen. Breuer, Bauhausschüler und -lehrer, war ein Protegé von Walter Gropius, mit dem Piscator zu jener Zeit am Projekt eines Totaltheaters arbeitete, das die räumliche Trennung von Schauspielern und Zuschauern aufheben sollte.
Für Piscators Wohnung entwarf Breuer einen Tisch mit Stahlgestell und Glasplatte, einen anderen mit Holzplatte und einem Untergestell in Form eines breiten Doppel-T-Trägers, dazu Stahlrohrstühle, ineinanderschiebbare Beistelltischchen und ein recht langes schwarzes Sideboard in mittlerer Wandhöhe für Gläser und Geschirr. Wohnzimmer, Esszimmer, Arbeitsraum, Schlafzimmer mit Gymnastikecke und Ankleide mit Frisiertisch für die Dame reihten sich aneinander und gaben sich kühl, nüchtern, sachlich. Weiße Kugellampen, an Stahlstäben abgehängt, tauchten das Esszimmer in vermutlich sehr helles Licht. Freundliche Stoffbespannungen an einigen Wänden hinter den Liegen und helle Vorhänge verbreiteten etwas Gemütlichkeit. Das einzig fragwürdige Detail des ansonsten untadeligen Ambientes war ein Ablagebord mit kleinen Kakteen. Waren sie einer verschämten Vorliebe des Hausherrn geschuldet oder seinem Willen zu pointierter Verfremdung?
Die Wohnung wurde im Rahmen einer Homestory mit Bildern der Fotografin Cami Stone im Lifestyle-MagazinDie Dame unter der ÜberschriftDas Heim Piscators. Eine sachliche Wohnung und in der Design-ZeitschriftDie...