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Sie sind die Wolfsbeauftragte?«, stellte der Staatsanwalt überrascht fest. Zuvor hatte er den milchgesichtigen Polizisten und dessen Kollegen mit den Maschinenpistolen im Anschlag zur Absuche des von Jenny beschriebenen Hochsitzes geschickt, was bei ihr eine grundsätzliche Nervosität auslöste. Was, wenn Jo dort tatsächlich tot aufgefunden wurde? Seine Herztabletten hatte sie noch in der Gesäßtasche. Was, wenn er sie nicht mehr brauchen würde? Bei diesem Gedanken stieg wieder die Scham der vergangenen Stunde in ihr hoch. In ihrem Kopf herrschte Gefühlschaos. Sie hatte in den letzten Tagen, nachdem sie die Wahrheit herausgefunden hatte, versucht, den Mann zu hassen, um den sie sich jetzt wohl öffentlich sorgen sollte, obwohl ihr nicht danach war, schließlich war es ihr Vater.
»Ich bin Tierärztin, Amtsveterinärin und seit voriger Woche die neue Wolfsbeauftragte des Landkreises Vorpommern. Und mir ist von den Wolfssichtungen, von denen Sie sprechen, nichts bekannt«, versuchte sie ihre Gedanken abzuschütteln. »Als Wolfsbeauftragte werden mir in der Regel alle Wolfsbegegnungen und auch Schäden gemeldet.«
»Die Joggerin, die den Wagen Ihres Vaters aufgefunden hat, hat berichtet, dass sie einen Wolf gesehen hat. Er stand dort.« Bach zeigte auf eine Lücke in der Böschung, hinter der ein abgemähtes Stoppelfeld zu erkennen war.
»Sie meinte, er war sehr groß, etwa wie ein Kalb, habe hohe Schultern gehabt, und das Fell sei rötlich braun gewesen. Die Beine seien dafür sehr kurz gewesen. Er sei nicht davongelaufen, auch nicht, als sie geklatscht und geschrien habe. Erst als sie einen Stein aufgehoben und in seine Richtung geworfen habe, habe er sich plötzlich zurückgezogen und sei dort in den Wald verschwunden.«
Jenny versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.
»Die Joggerin meinte auch, der Wolf sei wohl der Grund dafür, dass der Hund Ihres Vaters wie wahnsinnig angeschlagen habe. Nur deshalb war ihr der Landrover als ungewöhnlich aufgefallen. Wer lässt am frühen Morgen seinen Hund allein im Auto zurück?«
»Und weil Sie hinter allem einen möglichen Wolfsangriff vermuten, so ein Aufwand?«
»Tatsächlich gab es in dieser Gegend in den vergangenen Tagen wohl mehrere Wolfssichtungen.« Bach drehte sich um und rief einen der verbleibenden Polizisten bei seinem Namen, der daraufhin zu ihnen herüberkam. Er war kleiner als Jenny und drahtig, seine Haut braun gegerbt, eher wie bei einem Gärtner.
»Piet, erzähl mal, was du mir vorhin berichtet hast.«
Der Polizist nahm seine Mütze ab und gab Jenny die Hand. »Ich hoffe, wir finden Ihren Vater. Ich kenne Jo schon lange, und er ist ein feiner Kerl.« Er sprach mit breitem norddeutschem Akzent.
»Frau Rausch ist im Landkreis für die Wölfe zuständig.«
»Ich weiß«, sagte Piet, was bei Bach eine überraschte Reaktion auslöste. »Erzähl ihr von den Wolfssichtungen!«
Piet schien kurz zu zögern. »Wie ich sagte, vielleicht ist es nur Gedöns. Keine Ahnung, was man darauf geben kann. Kennen Sie das ›Fortschritt‹? Die alte Kneipe an der B109?«
Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr Blick immer wieder in die Richtung abglitt, in die die beiden Polizisten auf der Suche nach Jo verschwunden waren.
»Dort bin ich manchmal nach Feierabend. Also ziemlich oft. Und der Jo, Ihr alter Herr, der auch.«
Die Kneipe meinte er. Sie wusste, dass Jo abends gern auf ein Bier verschwand, aber nicht, wie die Gaststätte hieß.
»Jedenfalls haben dort in den letzten Tagen einige erzählt, dass sie einem Wolf begegnet sind.«
Stolpe an der Peene
Vor einigen Tagen
Nach dem gemeinsamen Frühstück und dem anschließenden Zähneputzen im Gebäude des evangelischen Kindergartens machten sich die »Zapfenzwerge« auf in den nahen Wald. Es waren dreizehn Kinder, weshalb sich jeweils zwei der Kleinen an den Händchen hielten und eine der Betreuerinnen mit einem hellblonden Mädchen das Schlusslicht bildeten. Eine weitere Betreuerin ging voran und zog in einem Bollerwagen den Proviant für den Tag hinter sich her. Der Schülerpraktikant sicherte das Grüppchen vorschriftsmäßig zur Straßenseite ab. Alle Kinder trugen neongelbe Westen, auf denen neben einem gemalten Tannenzapfen und einem stilisierten Zwerg auch das Logo einer Versicherung abgebildet war, deren örtliche Agentur die Warnkleidung spendiert hatte.
Es war eine sogenannte »Waldkindergartengruppe«, was bedeutete, dass ma