SPEICHEL
Pflicht über alles.«
»Pflicht über alles.«
Obwohl ich mich jeden Morgen mit Henry unterhielt, ließen wir die Formalitäten niemals außer Acht. Henry bedeuteten der Labrador-Pakt und selbst dessen kleinste Rituale einfach alles. »Ignoriere die kleinen Dinge, und die großen Dinge laufen aus dem Ruder«, pflegte er zu sagen. Und an diesem Morgen im Park trafen die kleinen Dinge und die großen Dinge wahrscheinlich zum ersten Mal aufeinander – obwohl mir das damals noch nicht klar war.
Es fing alles ganz normal an. Adam und Mick gingen zu der Parkbank, um ihren täglichen Plausch zu halten, während Henry und ich zum anderen Ende des Parks liefen, vorbei an den großen Eichen, damit ich meine morgendliche Lektion bekommen konnte. Ich weiß nicht genau, warum ich immer so weit weg von Adam unterrichtet werden musste, aber Henry war es auf diese Weise lieber. »Das dient der Geheimhaltung unserer Mission.« Also machten wir es so.
»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sich Henry.
»Gut«, sagte ich. »Die Lage in der Familie scheint sich zu bessern.« Ich berichtete ihm von dem erfolgreichen Wedeleinsatz meines Schwanzes am Vorabend.
Henry sah mich an und nickte. In einer seltenen Zurschaustellung von Zuneigung leckte er mir die Wange. »Gut gemacht, Prince. Ich bin stolz auf dich.«
Mir war schwindelig vor Stolz, und in meinem Kopf erklang die Musik des Parks. »Du bist ein guter Lehrer, das ist alles.«
»Nein, nein, Prince. Du darfst nicht bescheiden sein. Eine glückliche menschliche Familie ist keine Selbstverständlichkeit. Wie du sehr wohl weißt, entsteht sie nicht durch Zufall. Nur jene Labradorhunde, die sich ganz dem Guten Kampf verschreiben, erzielen solch ein harmonisches Ergebnis.« Er sah zu seinem Herrchen Mick hinüber, der auf der Parkbank eifrig auf Adam einredete.
»Nun gut, die heutige Lektion dreht sich um die sensorische Voraussage.« Er drehte sich wieder zu mir um. Als ehemaliger Polizeihund war das natürlich Henrys Lieblingsthema und ein Gebiet, auf dem er sich hervorragend auskannte. Er behauptete, dass man Ärger nicht nur riechen, sondern sogarim Voraus erschnüffeln konnte.
»Voraussage ist Schutz, so einfach ist das«, erklärte er, während wir um einen der Eichenstämme schnüffelten.
»Wenn du den Ärger riechst, noch bevor er geschieht, dann kannst du die Familie jederzeit beschützen. Das Problem ist nur, je weiter die Dinge in der Zukunft liegen, desto schwerer kann man sie erschnüffeln. Wenn wir jedoch bis zur letzten Minute warten, ist es oft zu spät. Du musst immer daran denken, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart verborgen liegt. Wenn du die Dinge in der Gegenwart nicht nur riechen kannst, sondern auch verstehst, was sie zu bedeuten haben, wirst du in der Lage sein, künftige Möglichkeiten zu enträtseln.«
Er spürte meine Verwirrung und versuchte, sich klarer auszudrücken.
»Im Heim deiner Familie gibt es in jedem Zimmer Tausende von Gerüchen, die um deine Aufmerksamkeit buhlen. Das sind die Gerüche der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Denk beispielsweise an den Geruch eines Menschen. Wenn der Mensch das Zimmer verlässt, bleibt sein Duft zurück. Du riechst die Vergangenheit. Wenn der Mensch mit dir im Zimmer ist, dann ist das der Geruch der Gegenwart. Aber ist es nicht auch möglich, den Menschen zu riechen, noch bevor er den Raum betritt? Natürlich! Wir riechen also die Zukunft jeden Tag, ohne dass es uns bewusst ist. Überall um uns herum gibt es Hinweise darauf, wie alles enden wird. Der Geruch – das ist das Geheimnis. Wenn wir diesen wichtigsten Sinn nicht entwickeln, bleibt die Zukunft für uns ein absolutes Rätsel. Aus diesem Grund scheitern die Menschen so jämmerlich, wenn sie sich darin versuchen. Sie verlassen sich zu sehr darauf, die Dinge zusehen – sei es in den Sternen oder in ihren Handlinien. Aus diesem Grund müssen wir uns um sie kümmern und sie vor künftigem Schaden bewahren. Der Schlüssel besteht darin, dass …«
Henry hielt inne und schnupperte die Luft. Zuerst dachte ich, er