KAPITEL EINS
MANDARINENKUCHEN – ELBRUS WORLD RACE
Die Fischfutterflocken rieseln durchs neongrüne Licht, um sich kurz auf der Wasseroberfläche festzusetzen. Modrige Aquariumluft erreicht die Nase, als würde die wie ein Mund offenstehende mattschwarze Plastikklappe sie mir entgegenhauchen.
Sofort setzt sich der Madeleine-Effekt in Gang: Die Duftmoleküle aus der Luft gelangen in die Nasenhaupthöhle ans Riechepithel und zu den 30 Millionen Rezeptorneuronen, an die die Moleküle andocken, um sich über die an den Rezeptoren anhaftenden Sensoren direkt ins zentrale Nervensystem chauffieren zu lassen, rasend.
Ist die Geruchsinformation im Gehirn, nah an der Amygdala, dem Areal, das für Emotionen zuständig ist, angekommen, wird auch der Hippocampus als Teil des limbischen Systems, dem Wächter der Erinnerung, aktiviert. Zack, in weniger als einer halben Sekunde wird Erlebtes samt Emotion präsent. Bei mir flackern Bilder vom Toben auf bemoosten Baumstämmen im Wald der Kindheit auf. Alles ist leicht, grün, glücklich und ursprünglich.
Früher. Vor dem Suizid. Als die 0-förmigen Fischmäulchen anfangen, die Wasserhaut zu zerreißen, verschwimmt die Reflexion meiner verquollenen Augen darauf. Drei Fingerspitzen Fischfutter aus der gelben Fischfutterplastikdose. Klappe zu, Duft weg, Fische füttern fertig, erledigt, hämmert es durch den Kopf, als hinge das eigene Leben davon ab. Nächster Schritt.
Meine Finger hacken auf das Handy, um meinem Arbeitskollegen eine Textnachricht zu übermitteln, denn übermorgen ist Montag und an Werktagen wird gewöhnlich erwartet, zu arbeiten. Nicht so ich.
Montag werde ich nicht zur Arbeit kommen, lesen sich weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund, Dienstag auch nicht. Ob ich je wiederkomme zur Arbeit, das kann ich jetzt noch nicht sagen, jedenfalls übermorgen nicht und jedenfalls sind die Fische versorgt, keine Sorge.
Nachfragen ignorierend, lege ich das Handy auf dem Holztisch ab. Alles, was notwendigerweise zu erledigen war, ist jetzt erledigt. Zwei Anrufe, die Fische, die Arbeit, alle Schritte erledigt. Ist noch etwas zu erledigen, irgendetwas, das mir Halt gibt oder Ablenkung, ist wirklich nichts mehr zu erledigen? Nein, wirklich nichts, alles ist erledigt, was zu erledigen ist. Punkt. Panik.
Im nächsten Moment bietet das Fenster der Balkontür dem Oberkörper den Halt, der gegen das Zusammensacken stützt, die Stirn schlägt gegen die Scheibe. Schreie schallen ins Ohr. Das müssen meine sein, denn ich bin alleine im Haus. Aber jemand muss mich doch umarmen, mich zusammenhalten, sonst werde ich auseinanderbrechen, das ist klar.
Die schwitzige Haut der Stirn stempelt einen schmierigen Abdruck auf das Balkontürglas. Ab jetzt ist alles anders, ab jetzt sieht man nur noch verschwommen hindurch. Oder sind das die Tränen, die den schwarzen Mascara in die Augen geschwemmt haben, der die Sicht behindert? Die durch den Grauschleier erkennbare Allgäuer Berglandschaft, das Immenstädter Horn, das sich auf der anderen Seite befindet, sieht unscharf noch sanfter und idyllischer aus, wie durch den Filter Harmonie. Als wäre nichts passiert. Als wäre alles okay und wie immer. Während ich von innen heraus eingehe.
Während ein anderer eben die verzweifeltsten Momente seines Lebens erlebte. Ein anderer. So anders ist er nicht. Der Heulkrampf verhindert das Atmen. Schreie ersticken ohne Atmung. Ich ersticke. Jemand muss mich fest umarmen, sonst werde ich eingehen. Irgendjemand.