KAPITEL I
Blutsbrüder
Gaston wuchs in einem malerischen Königreich auf, dessen Schloss auf einer hoch aufragenden Felseninsel thronte, die eine lange Steinbrücke mit den Ländereien auf dem Festland verband. Es war ein wunderschönes und architektonisch einzigartiges Schloss, das aus vielen Ebenen bestand, wobei jede mit einer eigenen Treppe und eigenem Garten ausgestattet war. Die Schlosstürme – und von ihnen gab es viele – glichen spitzen Hexenkappen, die majestätisch in den Himmel ragten. Gaston konnte sich im Schloss und in den umliegenden Ländereien frei bewegen. Zusammen mit dem Prinzen des Königreichs verbrachte er seine Tage damit, jeden Winkel des Schlosses und der ausgedehnten Wälder des Königreichs zu erkunden.
Gaston und der Prinz waren die besten Freunde, seit sie die erste Entdeckungsreise auf dem Schlossgelände unternommen hatten. Ihre Mütter standen sich sehr nah und liebten es, ihre Söhne zusammen aufwachsen zu sehen. Sie waren wilde, abenteuerlustige, ungestüme Jungen, ständig auf der Suche nach neuen Wagnissen. Und sie mussten nie lange suchen.
Zu ihren Spielen gehörte, die ältesten Bäume und die am stärksten überwucherten Wege zu finden. Sie fanden verlassene, baufällige Gebäude und ausgehöhlte Eichen, die zu unterirdischen Tunneln führten. Entdeckten einen uralten und verfallenen Friedhof, der anscheinend schon existiert hatte, lange bevor die Familie des Prinzen über das Land herrschte. An manchen Tagen ritten die beiden Jungen stundenlang auf ihren Pferden, übersprangen Bäche und Zäune und forderten sich gegenseitig heraus, sich so weit wie möglich aus dem Königreich des Prinzen zu entfernen. Ihr Traum war es, fremde Länder zu erkunden, von deren Existenz sie bislang nur aus Büchern wussten, die sie in der Schlossbibliothek aufgestöbert hatten. An anderen Tagen blieben sie in der Nähe ihres Zuhauses, lasen Geschichten und träumten davon, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie alt genug waren, um das zu tun, was sie wollten.
Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen im Schloss war es, sich in die Bibliothek zu schleichen und dort alle möglichen Bücher zu suchen – darunter auch einige über die Geschichte der Vielen Königreiche. Diese Bücher waren mit üppigen Illustrationen von Wesen gefüllt, die seit Hunderten von Jahren nicht mehr gesehen worden waren, wie die großen Herren des Waldes, die einst über all die Länder geherrscht hatten, auf denen die Vielen Königreiche erbaut sind. Sie wussten nicht, dass die Herren des Waldes in nicht allzu ferner Zukunft aus ihrem langen Schlummer erwachen würden, um ihren Platz in der Welt wieder einzunehmen.
Der Bibliothekar des Schlosses, Monsieur Biblio, war ein mürrischer und spießiger Mann, der sehr darauf bedacht war, dass die Bücher die Bibliothek nicht verließen, obwohl sie rechtmäßig dem Prinzen gehörten – oder zumindest eines Tages gehören würden. Monsieur Biblio bewachte die Bücher wie ein Drache seinen Schatz. Manchmal knurrte er sogar, wenn er feststellte, dass eines fehlte. Die beiden Jungen waren sich einig, dass Monsieur Biblio eher wie ein Maulwurf als wie ein Drache aussah. Er war ein untersetzter Mann mit einer runden Glatze und kleinen Augen, die durch seine dicke Brille stark vergrößert wurden. Gaston und der Prinz liebten es, sich heimlich in dieDrachenhöhle – wie sie sie nannten – zu schleichen, während Monsieur Biblio seinen Pflichten nachging. Meist ging der Prinz unter dem Vorwand hinein, Informationen von Monsieur Biblio zu erfragen. Diese hatten in der Regel mit einem Thema zu tun, von dem sie wussten, dass es den Bibliothekar besonders interessierte und er ausführlich und lange darüber sprechen würde.
Die Jungen hatten herausgefunden, dass Monsieur Biblio sich besonders für die Geschichte und den Bau der verschiedenen Schlösser in den Vielen Königreichen interessierte. Besonders beeindruckten ihn die Protokolle in den Haushalten der einzelnen Schlösser. Doch sein größtes Interesse galt den Hütern von Büchern, die vor