Am Mittag des21. Dezember fiel in Voerde der erste Schnee des Jahres. Nach einem eher warmen November und Dezember sah es ganz danach aus, als würde das beschauliche Städtchen am Niederrhein mit weißen Weihnachten beglückt werden.
Der elfjährige Jonas hatte seinen Papa zu einer Schneeballschlacht im Vorgarten überredet und schleuderte ihm gerade einen nassen Schneeklumpen gegen den Rücken, als seine Mama mit dem Familienkombi auf die vereiste Auffahrt bog. Sie kam von ihrer Schicht im Baumarkt, der letzten vor Weihnachten. Im Kofferraum hatte sie Schaufeln, Campinggas und Konserven vom Supermarkt. Papa lud ein paar Teile auf seine Arme.
»Habt ihr die Nachrichten gehört? Es gibt eine Unwetterwarnung des Deutschen Wetterdiensts. Anscheinend kommt da ein Schneesturm auf uns zu«, verkündete Mama auf dem Weg ins Haus.
Jonas freute sich. »Es gibt Schnee an Weihnachten!«, schrie er im Flur seiner älteren Schwester Lea entgegen, die trotz seiner Lautstärke nicht von ihrem Smartphone aufschaute. Er fläzte sich im Wohnzimmer mit seiner Nintendo Switch auf die Couch, während Papa den Einkauf ablud und dann neugierig einen Nachrichtensender einschaltete. Mama verschwand währenddessen in den Keller, um etwas an der Photovoltaikanlage umzustellen.
Jonas spielte zwar Super Mario, lauschte aber heimlich auf die Erwachsenenthemen im Fernsehen. Es ging um das Wetter und um den Krieg. Seine Mutter schimpfte oft auf die Politiker, die seit Jahren nichts taten, die das Land zugunsten der Wirtschaft abhängig gemacht hatten, weil ihnen die nächste Wahl wichtiger war als die bedrohliche Lage, in die sie ihr Land brachten. Mama wollte den Ausbau der Bundeswehr, aber viele wollten genau das nicht. Jonas fand, dass die Erwachsenen sich einigen mussten, wie er sich auch mit seiner Schwester einigen musste, wenn sie stritten. Als er von seiner Switch aufsah, schneite es viel heftiger als zuvor, und bis zum Abendessen lagen zwanzig Zentimeter Neuschnee.
***
Die Reflexion des Schnees schimmerte hell durch die Rollos im Elternschlafzimmer. Simon wälzte sich quer durch das Bett, unwillig, die warme Decke zurückzulassen. Doch seine Frau war bereits aufgestanden, und er folgte ihr bald nach unten in die Küche. Beim Blick aus dem Fenster staunte er darüber, dass man die Nachbarautos unter der halbmeterhohen Schneedecke kaum erkennen konnte. So viel weißes Zeug waren sie am Niederrhein nicht gewohnt.
»Es schneit jetzt seit über zwölf Stunden, und da wird noch mehr kommen«, prognostizierte Kathrin.
»Es wird schon nicht so schlimm werden«, entgegnete er, jedoch mit einem flauen Gefühl, und küsste sie liebevoll.
In diesem Moment kam Jonas in die Küche gerannt, ließ den Adventskalender links liegen, düste bis zum Fenster durch und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Noch mehr Schnee!«
Beim Frühstück bettelte er, draußen spielen zu dürfen, doch sie waren an diesem vierten Advent zum Mittagessen bei Simons Eltern eingeladen. Nach dem Frühstück befreite Simon daher die Auffahrt von dem schweren Pappschnee und zog gemeinsam mit Kathrin zum ersten Mal die Schneeketten auf die Reifen.
Während Simon wenig später am Auto auf seine Familie wartete, tauchte Herr Müller neben ihm am Zaun auf, sah sich um und meinte: »So viel Schnee hatten wir Jahre nicht mehr.«
»Ja, da hilft nur Vorräte ranschaffen und schaufeln«, entgegnete Simon.
Herr Müller nickte. »Wenn man eine Schaufel hat. Ich habe keine.«
Simon musterte seinen Nachbarn und hielt ihm die neue Schaufel hin, die Kathrin gestern aus dem Baumarkt mitgebracht hatte.
»Stellen Sie sie einfach an unsere Haustür, wenn Sie fertig sind.«
»Danke.« Herr Müller nickte und machte sich an die Arbeit.
»Steigt ein«, bat Kathrin die Kinder unterdessen.
Kurz darauf lenkte Kathrin den Wagen auf die schneebedeckte Straße, auf der sich schon zwei Autos festgefahren hatten. Die Leute schoben und drückten sich gegenseitig zurück auf die Fahrbahn. Dank der Schneeketten hatte Kathrin aber kaum Probleme, den Wagen in der Spur zu halten. Sie rollten auf die nächstgrößere Straße zu, wo schwere Räumfahrzeuge ihre Arbeit verrichteten. Während Lea schweigend hinter Simon saß und mit Kopfhörern in den Ohren aus dem Fenster starrte, beobachtete Jonas gefesselt, wie die großen Maschinen den Schnee an die Straßenränder schoben, wo er sich zu weißgrauen Bergen auftürmte.
Ab der Hauptstraße kam der Verkehr fast zum Erliegen, weil überall festgefahrene Fahrzeuge im Weg standen. Manche rutschten oder schlingerten gefährlich nah an ihnen vorbei. Während sie unerträglich langsam vorankamen, drehte Simon das Radio auf, um die Verkehrs- und Wettermeldungen zu verfolgen.
Als sie endlich bei der Tankstelle auf die B8 fuhren, lehnte sich Jonas staunend nach vorn zwischen die Vordersitze, denn vor ihnen bogen sich die Äste der Bäume unter der schweren Last tief herunter und bildeten einen weißen Tunnel, der die Straße umhüllte.
Simon tauschte einen beunruhigten Blick mit Kathrin, doch umkehren war hier keine Option. Also schlichen sie hinter den anderen Autos her, die sich unter dem weißen Vorhang wegduckten,