1.Überlegungen zum Begriff der Moderne
1.1.Der Kern der Modernisierungstheorie
Das Bewusstsein des radikal Neuen gehört unausweichlich zur Moderne. »Nur und erst die Neuzeit hat sich als Epoche verstanden und dadurch die anderen Epochen mitgeschaffen«, sagt Hans Blumenberg (1974: 135). Natürlich steht der Anspruch, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen, in einem Missverhältnis zur Realität der Geschichte, die nie von Grund auf neu anfangen kann. Gleichwohl ist die Moderne ohne diesen Anspruch nicht vorstellbar. Ob wir an Kant (1911, AA III: 12) denken, der in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft« seinen transzendentalphilosophischen Ansatz mit der kopernikanischen Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild vergleicht, oder an Hegel (1981: 318, § 273), der als Prinzip »der neuern Welt« »die Freiheit der Subjektivität« definiert und »den Standpunkt der modernen Welt« in Kontrast setzt zu den traditionellen Gesellschaften Asiens, die im Substantiellen oder Statarischen verharrten (Hegel 1939: 46, 158, 163, 169; 1981: 162, § 136) – immer setzt sich das moderne Denken in scharfen Kontrast zu allem Vorhergehenden. Es feiert sich als epochalen Durchbruch zur Vernunft, vor deren Forum sich jede Überlieferung und jede Autorität, selbst die Heilige Schrift, zu verantworten hat, verkündet die ins Unendliche gehende praktische Verbesserbarkeit der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und stellt anstelle einer göttlich begründeten Weltordnung die menschlichen Interessen und Bedürfnisse in den Mittelpunkt, auf die sich die sozialen Zustände immer neu auszurichten hätten.
Es verwundert nicht, dass diese auf Abgrenzung von allem Vorangegangenen, bloß Traditionalen und Autoritativen bedachte Fortschrittskonzeption schon bald ihre radikale Umkehrung erfährt. Bereits Nietzsche entdeckt die machttheoretischen Implikationen der Subjekt/Objekt-Dialektik der Aufklärung und entlarvt das neuzeitliche Prinzip der subjektiven Freiheit als eine Form des Machtwillens, deren sich das moderne Subjekt bedient. Macht ist für Nietzsche nicht mehr die irrationale Gegeninstanz zur Vernunft, sondern im Wesen der Vernunft selbst verankert (Schelkshorn 2009: 18 f.). Heidegger, Horkheimer und Adorno folgen ihm darin und entdecken im übermächtigenden Erkenntnisstreben des Subjekts gleichfalls den Keim von Unterdrückung, Verdinglichung und Entsubjektivierung. Mit seinen Analysen zur Disziplinargesellschaft und zur Biomacht zieht in jüngerer Zeit Michel Foucault die machttheoretischen Implikationen der Modernetheorie weiter aus. Gerade die bloße Umkehrung des neuzeitlichen Subjektivitätsprinzips führt aber über den aufklärerischen Fortschrittsoptimismus nicht hinaus, denn sie bleibt dem aufklärerischen Pathos der Kritik und damit einer normativen Perspektive verhaftet (Richter 2013a; Reschke 2004). Da die machttheoretischen Konzeptionen der Moderne die Vernunft selbst als die entsubjektivierende Zerstörungsmacht begreifen, kann der Ausweg aus der Katastrophe, auf die die moderne Gesellschaft unausweichlich zusteuere, allerdings nur noch in einer unkonkret bleibenden Gegenutopie gefunden werden, in Formeln wie »Verwindung der Metaphysik« (Heidegger), »Mimesis« (Horkheimer, Adorno) oder »Ästhetik der Existenz« (Foucault). Obschon die Bewertung gegensätzlich ausfällt, bemüht sich unter dem Eindruck tiefgreifender soziohistorischer Veränderungen sowohl der aufklärerische als auch der gegenaufklärerische Diskurs darum, den Ort der Moderne zu bestimmen. Ob dabei die Realisierung der Freiheit von der Moderne selbst oder von ihrem Anderen erwartet wird, in beiden Fällen entspringt das einzigartige Epochenbewusstsein der Moderne offenbar dem aus dem umfassenden Umbruch der Verhältnisse resultierenden Bedürfnis nach Selbstvergewisserung (Schelkshorn 2012: 218).
Im Unterschied zu den philosophischen Standortbestimmungen zeichnen sich die soziologischen Überlegungen zur Moderne, auch wenn es ihnen gleichfalls um eine Bestimmung des Ortes der Moderne angesichts radikaler sozialer, politischer und ökonomischer Veränderungen geht, durch ein höheres Maß an Nüchternheit aus. Sie gedeihen zwar auf dem Boden des aufklärerischen Fortschrittsdenkens, verlassen diesen Boden aber auch. Wie dieses sind sie nicht selten normativ grundiert. Zugleich verzichten sie partiell darauf, die Moderne in ihrer Eigenart zum Maßstab der Kritik zu machen. Durkheim (1992) etwa beurteilt die moderne arbeitsteilige Gesellschaft auf der einen Seite als komplexer und leistungsfähiger als traditionale Gesellschaften, sieht andererseits aber auch die Bedrohung der modernen Gesellschaft durch anomische Tendenzen. Max Weber (1920: 1) wiederum schreibt den Kulturerscheinungen des Okzidents zwar eine Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung zu, räumt aber gleichzeitig ein, dass es sich dabei um eine beliebte Imagination des westeuropäischen Kulturbürgers selbst handelt. Und Parsons (1971: 56, 62 ff.), der evolutionäre Universalien wie Bürokratie, Marktorganisation, universalistische Normen und demokratische Assoziation als unabdingbare Bedingung für gesteigerte Anpassungsfähigkeit und Höherentwicklung definiert, schließt die Überlebensfähigkeit von Systemen auf niedrigerer Evolutionsstufe nicht aus.
Ebenso stimmen die soziologischen Modernekonzeptionen mit den Diskursen der Aufklärung in ihrer scharfen Kontrastierung von Vormoderne und Moderne überein. Sowohl Spencer (1887) mit seiner Unterscheidung zwischen militärischer und industrieller Gesellschaft als auch Durkheim (1981), der die arbeitsteilige moderne Gesellschaft klar von der segmentär differenzierten Gesellschaft abhebt, als auch Weber (1920), der die moderne Welt des Okzidents durch Prozesse der Rationalisierung charakterisiert sieht, als auch Luhmann (1997), der mit dem Umbau der primären Differenzierungsform von Stratifikation auf funktionale Differenzierung die Herausbildung der modernen Gesellschaft identifiziert, unterscheiden deutlich zwischen Tradition und Moderne. Gleichwohl markieren sie aber auch Übergänge zwischen beiden Epochen, so wenn Durkheim in seinem Spätwerk den Fortbestand religiöser Praktiken in der Moderne herausstellt oder Weber nach den protestantischen Wurzeln der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung sucht.
Anders als die aufklärerischen und idealistischen Diskurse entdecken die soziologischen Entwürfe die Spezifik der Moderne allerdings nicht mehr in einem einzigen Prinzip, etwa dem der freiheitlichen Subjektivität, das seinen Grundlagencharakter ohnehin nur aus seiner gesellschaftsfreien Konzipierung gewinnt, und fühlen sich daher auch nicht mehr herausgefordert, die Entlarvung dieses Prinzips zu betreiben. Vielmehr machen sie eine Vielzahl von Merkmalen aus, mit deren Hilfe sie moderne Gesellschaften charakterisieren und von denen keines die Bedeutung einer Letztbegründung besitzt. Tocqueville, der geniale Analytiker der politischen Macht, gibt den Ton vor. Überwältigt von der Einsicht in den unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie in Amerika und in Europa begreift er nicht nur, dass damit der Wert der Abkunft immer mehr sinkt. Er sieht auch, dass parallel zum Niedergang von Königtum und Adel und der Ausbreitung der Gleichheit zwischen den Menschen der Handel eine neue Quelle der Macht wird, dass Eigentum erwerbende Bürger und Finanzleute zu politischen Größen aufsteigen, dass mit der Ausbreitung der Geisteserziehung Wissenschaft und Bildung zu einem Mittel des Erfolgs werden, dass das Wohl des Staates und der Gesellschaft untrennbar mit der Gewährung politischer Rechte für alle Staatsbürger verknüpft ist und dass die Demokratie der aufrichtigen und tiefen Achtung des Gesetzes bedarf (Tocqueville 1976 [1835/40]: 6 f., 272 f.). In der ganzen christlichen Welt vollziehe sich »die gleiche Umwälzung« – eine Umwälzung, die dazu geführt habe, dass »die gesellschaftlichen Bedingungen ...