Helga
Moarhof am Chiemsee
Mai 1975
An dem Tag im Mai, als Helga sich entschloss, endlich die Wahrheit zu offenbaren, zog von Südwesten ein Gewitter heran. Wolken verdunkelten den Himmel. Graues Licht senkte sich über die Leinwand. Helga legte den Pinsel beiseite und trat ans offene Atelierfenster.
Die Luft war warm und schwül, und der Duft des Flieders schwer und süß. In den Obstbäumen verstummten die Vögel. Zwei von Justus’ und Franziskas Leghorn-Hennen suchten Zuflucht in der Scheune, während einige Schwalben im Tiefflug den Kuhstall des Nachbarhofs ansteuerten und jenseits des Staketenzauns die alte Kameter-Bäuerin mit dem Wäschekorb in den Gemüsegarten schlurfte und Helga kaum eines Blicks würdigte. Sie schenkte niemandem auf dem Moarhof wirklich Beachtung. Die Aussteiger waren mehr oder weniger Luft für sie. Gammler. Hippies. Stadtmenschen, die keine Ahnung vom Leben auf dem Land hatten. Studierte, die ein Schaf nicht unbedingt von einer Ziege unterscheiden konnten und einen Boskop nicht vom Gravensteiner. Auch die jahrelange Nachbarschaft hatte wenig daran geändert.
Während die Alte die Wäsche von der Leine nahm, erschien ihre Schwiegertochter in Helgas Blickfeld. Eine freundliche und aufgeschlossene Frau. »Jessas«, rief sie zu Helga hinüber. »Des gibt a Wetter.« Mit der Hand wies sie zum Himmel und lief weiter zum Frühbeet, um die Gemüsesetzlinge abzudecken.
Graphitgraue Wolken mit einem ockerfarbenen Streifen spiegelten sich im Chiemsee, der einen Kilometer entfernt am Fuß des Hangs lag. Sie hingen tief über der Landschaft, verschatteten Felder und Wiesen, verbargen den Gipfel des Hochfelln und verdunkelten den Nachmittag. Noch war es ruhig. Als ob die Natur in einem Moment der Konzentration den Atem anhielt, um ihre Kraft zu bündeln. Doch jeden Augenblick konnte das Unwetter losbrechen.
Helga ging vom Atelier in den Wohnbereich ihres Häusls, schlüpfte in die Gummistiefel, streifte den gelben Friesennerz über und trat vor die Tür. Gerade rechtzeitig zur Ouvertüre des Spektakels. Es begann sehr sacht. Beinahe behutsam. Eine erste Bö wirbelte Staub und Blätter auf. Vereinzelte Tropfen fielen warm und schwer. Helga zog die Kapuze über den Kopf, versenkte die Hände in den Taschen und ging los. Als es zu regnen begann, öffnete sie das Tor, das auf den Weg hinunter zum See führte. Der Wind frischte plötzlich auf, fegte ihr die Kapuze vom Kopf und zerrte am schulterlangen Haar. Von einem Moment auf den anderen brachen die Wolken und Regen pladderte in dicken Fäden herab. Kalte Rinnsale liefen ihr übers Gesicht und unter die Jacke. Die nächste Bö klatschte ihr die nassen Haarsträhnen um die Ohren. Sie zog die Schultern hoch und ging weiter. Angespannt. Wartend.
Wetterleuchten über dem See. Donnergrollen in den vorübereilenden Wolken, angetrieben vom Wind, der sich zum Sturm auswuchs. Plötzlich war er da, brach los, fuhr in die Bäume, schüttelte sie, riss Blätter und Zweige ab. Ein Heulen legte sich über die Landschaft, wie das Klagen verlorener Seelen. Beinahe waagrecht trieb der Sturm den Regen vor sich her. Innerhalb von Sekunden war die Jeans durchweicht, das Wasser lief in Bächen von der Regenjacke. Sie zog sie aus, ließ sie achtlos fallen. Krachend schlug ein Blitz in den See, der Donner folgte auf dem Fuß. Hagelschloßen schossen vom Himmel, prasselten nieder. Trafen sie an Kopf und Schultern, an Brust und Beinen. Eisige Geschosse. Groß wie Murmeln. Dutzendfacher dumpfer Schmerz. Helga ging weiter. Die Wiese wurde weiß. In einem Baum neben ihr barst mit einem Knall ein Ast und stürzte zu Boden. Die Luft war elektrisch geladen, roch nach Ozon. Sie riss sich die Bluse vom Leib und streckte sich dem Inferno entgegen.
Motorenlärm störte die Unwettermusik. Bremsen quietschten. Ein orangeroter Käfer hielt neben ihr. Marlene sprang heraus. »Helga! Du hast sie ja nicht mehr alle!« Ihre Freundin zog sie zum Wagen. »Soll dich ein Blitz erschlagen oder ein umstürzender Baum?« Von Marlenes kreisrunder John-Lennon-Brille perlten Regentropfen. Ihre Igelfrisur wurde nass.
Die Anspannung ließ nach. In Helga stieg ein Lachen auf, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Schließlich prustete sie los. Marlene schüttelte den Kopf. Sie holte Bluse und Regenjacke, warf beides auf die Rückbank und brachte Helga zurück zum Häusl.
In der Küche nahm Marlene ein frisches Geschirrtuch aus dem Schrank und rubbelte sich die kurzen kupferrot gefärbten Haare trocken. Der Ansatz war grau meliert. Wir werden alt, schoss es Helga durch den Kopf. Wer hätte das gedacht? Ich jedenfalls nicht.
»Zieh dir was Trockenes an. Ich mach uns inzwischen Tee.«
»Jawohl.« Helga konnte es nicht lassen und schlug die Hacken in den Gummistiefeln zusammen. Doch ihre Freundin meinte es nur gut mit ihr. Schon immer. Genau genommen seit über dreißig Jahren, seit sie sich in Dresden auf der Kunstakademie kennengelernt hatten.
Im Bad zog Helga die nassen Sachen aus. Die Hagelschloßen hatten rote Flecken auf der Haut hinterlassen, die morgen blau sein würden. Es war nicht wichtig. Sie rubbelte die Haare trocken und betrachtete ihr Spiegelbild. Wieder einmal erschien sie sich fremd. Seit jenem verhängnisvollen Tag vor dreißig Jahren war das so. Eine Unbekannte blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Scharf stieß Helga die Luft zwischen den Zähnen hervor, wie immer, wenn sie daran denken musste.
Sie griff zum Föhn. Der warme Luftstrahl tat gut. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt ihr war. Wer bist du?, fragte sie sich und musterte ihr Spiegelbild erneut. Eine aparte Einundfünfzigjährige, mit blauen Augen und kastanienbraunem Haar. Eine ungewöhnliche Kombination