1 Madame Doche, deren gönnerhafte Miene nicht weniger großzügig wurde dadurch, dass sie sie regelmäßig aufsetzte, nahm Lewis Percy den Camembert aus der Hand, drückte ihren erfahrenen Daumen hinein, verkündete, dass er gut war, und führte ihn in den Salon. Dort war die reguläre Besetzung seines privaten Theaters versammelt. Was für ihn die Unterhaltung dieses Abends war, die Lehrstunde des Abends, die Belohnung des Abends, wurde zu seinem persönlichen Vergnügen aufgeführt. Er musste nur noch Platz nehmen.
Manchmal brachte er eine Tüte Kirschen mit: etwas Kleines, aber Dekoratives, wie es seinem untergeordneten Status zukam. Im Salon nahmen die Damen, seine Mitbewohnerinnen, mal mehr, mal weniger kleine Häppchen zu sich, und da er der einzige Mann war, fehlte ihm der Mut, dem Ganzen eine etwas robustere Note zu geben, obwohl er fast immer Hunger hatte und gerne etwas Substanzielleres als die Schinkenscheiben und die paar Äpfel gegessen hätte, die er sich gestattete. Ab und zu bekam Mme Doche Mitleid mit ihm und setzte ihm einen Teller von der dicken, breiartigen Suppe vor, die sie für das Abendessen ihrer Arbeitgeberin zubereitete. Die Suppe gab es normalerweise nach den Äpfeln. Ein nicht weniger dickes Grießgericht konnte vor dem Schinken kommen. Lewis, der noch jung war, konnte mit diesen Abweichungen umgehen. Das Vergnügen dieses Abends lag nicht im Essen, obwohl es ihm natürlich immer willkommen war. Das Vergnügen dieses Abends lag für ihn vielmehr in der warmen, unkritischen Gesellschaft der Frauen, die alle nur vorübergehend hier wohnten, wie er auch, in der höhlenartigen Wohnung von Mme Roussel, der dreiundachtzigjährigen Witwe, unter deren Dach sie zufällig gelandet waren – für ein Jahr, für sechs Monate, für zwei Jahre –, so lange, wie ihre Tätigkeiten in Paris eben dauerten. Während Lewis’ Mitstudenten ihr Dasein in mageren Studentenunterkünften fristeten, wohnte Lewis dank eines Glücksfalls bei der französischen Sprachenschule und des Geldes, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, fast schon prachtvoll in der Avenue Kléber. Sein Zimmer war das kleinste in der Wohnung, wenig mehr als ein Anhängsel der Hauptwohnung, doch der überlegene Vorteil lag in der Geselligkeit seiner Mitmigrantinnen. Er bezeichnete sie in Gedanken als Mme Roussels Gäste, obwohl sie einen satten Preis für dieses Privileg zahlten. Mme Roussel selbst, die alt war und selten komplett bekleidet, glänzte durch wohlwollende Abwesenheit. Ihre Unterkunft, zu der nur Mme Doche Zutritt hatte, war abgetrennt, am Ende des Korridors. Ab und zu, wenn sie auf dem Weg zum Badezimmer waren – zu dem sie streng regulierten Zugang hatten –, konnten sie hören, wie sie Patiencen legte und mit sich selbst sprach, mit lauter, überraschend heiserer Stimme.
Nachdem er seinen Camembert oder seine Kirschen überreicht hatte, setzte sich Lewis mit Mme Doche, Roberta und Cynthia auf einen der Louis-XV.-Stühle mit ihren schäbigen Bezügen, die auf die unansehnliche Art von Wandteppichen abgewetzt waren, nach jahrelanger Abnutzung im flackernden Licht der in weitem Abstand montierten Wandlampen. Der Salon war dämmrig, sein ehemaliger Glanz nicht mal mehr eine Erinnerung. Dieser ausgeblichene Hintergrund unterstrich die Anwesenheit der Frauen nur noch stärker. Die abendliche Benutzung des Salons war eines der Privilegien, für die sie so teuer bezahlten. Und da sie schon so viel gezahlt hatten, nutzten sie ihn eben auch auf ihre Weise. Chesterfield-Zigarettenschachteln wurden nachlässig auf die Marmorplatten der verstreuten Tische mit den gusseisernen Beinen gelegt, neben Päckchen mit Räucherlachs und den Matzen, die Roberta so gerne aß. Durch ihre Arbeit bei derUNESCO konnte sie sich weit mehr Luxus erlauben als die anderen