: Clare Chambers
: Scheue Wesen Ein zarter Roman über die Sehnsucht, gesehen zu werden | 'Eine sehr liebevolle Lektüre, die uns wieder mal zeigt, dass Menschen Menschen brauchen.' Elke Heidenreich, Autorin von 'Altern'
: Eisele eBooks
: 9783961612062
: 1
: CHF 11.70
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wann hast du dich das letzte Mal richtig gesehen gefühlt? Helens Hansford ist alles andere als eine konventionelle Frau - erst recht für die Sechzigerjahre. Unter der Woche hilft sie Patienten in einer modernen Klinik durch Kunst zur Rehabilitation, an den Wochenenden versucht sie, die Affäre mit ihrem charismatischen Kollegen Dr. Gil Rudden zu retten. Dass Gil seine Frau und Kinder nicht verlassen will, macht Helen anfangs nicht aus. Schließlich ist sie doch jung, autonom und emanzipiert. Dann begegnet sie William Tapping. Er das Haus seiner verwirrten alten Tante seit Jahren nicht mehr verlassen und spricht kein Wort. Alle anderen sehen in dem verwahrlosten William nicht mehr als eine Randfigur. Nur Helen bemerkt seine überraschende künstlerische Begabung und setzt alles daran, sein Geheimnis zu lüften. Schnell offenbart sich, dass William nicht der Einzige ist, der schon lange nicht wirklich gesehen wurde ... Inspiriert durch wahre Begebenheiten erzählt Clare Chambers nach ihrem Überraschungserfolg Kleine Freuden mit Scheue Wesen nun die Geschichte einer jungen Kunsttherapeutin im England der 1960er Jahre, die mit dem Schicksal eines Patienten konfrontiert ihr eigenes Leben hinterfragen muss. 'Chambers' Sprache ist wunderschön und schafft, was nur die geschicktesten Schriftsteller können: großes Vergnügen aus kleinen Details.' The New York Times

Clare Chambers wurde 1966 in London geboren. Sie unterrichtete Englische Literatur in Oxford, bevor sie für die bedeutende Verlegerin Diana Athill erst als Sekretärin, später als Lektorin zu arbeiten begann. Nach acht Romanen und einer Schreibpause von zehn Jahren wurde Kleine Freuden ein durch Mundpropaganda erzeugter Überraschungsbestseller und erschien auf Deutsch im Eisele Verlag. Die Mutter dreier erwachsener Kinder lebt mit ihrem Mann im Südosten Londons.

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1964

In allen gescheiterten Beziehungen gibt es einen zunächst noch unbemerkten Punkt, in dem man später jedoch den Anfang vom Ende erkennt. Für Helen war es das Wochenende, an dem der Versteckte Mann nach Westbury Park kam.

Am Freitag hatte sie gerade den Raum für die Kunsttherapie ihrer Lieblingsgruppe der ganzen Woche vorbereitet – männliche Alkoholiker –, als Gil seinen Kopf zur Tür hereinstreckte. Nachdem er gesehen hatte, dass sie alleine war, kam er herein, setzte sich auf eine Tischkante und schaute ihr zu, wie sie Papier, Stifte, Kohlestifte und Ölfarben bereitlegte. Paletten waren im Halbkreis um ein Stillleben aufgebaut – ein Korbstuhl, bedeckt mit einem Stück Samt, neben einem Tisch mit einem Tulpenstrauß in einer Vase, einer Milchkanne und einer Schüssel mit Eiern. Die Türen zu den zwei kleinen Nebenräumen, die von Patienten genutzt wurden, die lieber alleine arbeiteten, standen halb offen. Er warf einen fragenden Blick in Richtung der Nebenräume, den Helen mit einem beruhigenden Kopfschütteln beantwortete, bevor er anfing zu reden.

»Kath fährt mit den Kindern übers Wochenende runter nach Deal.«

»Ja?« Es hatte vorher schon ähnliche Fehlalarme gegeben, und Helen hatte gelernt, ihrem Optimismus nicht zu früh freien Lauf zu lassen.

Er nickte. »Ihre Patentochter hat gerade ein Baby bekommen, deshalb fährt sie morgen da runter, um … zu machen, was auch immer Frauen bei solchen Angelegenheiten machen. Also …« Er starrte sie mit diesem brennenden Blick an, mit dem er unbewusst Frauen aller Altersgruppen anschaute, aber auch seine Patienten – männliche wie weibliche. Helen hatte dieses Phänomen schon wirken sehen, aber sie bildete sich gerne ein, dass er noch ein bisschen intensiver war, wenn Gil ihn auf sie richtete.

»Du könntest bei mir übernachten?« Obwohl sie schon seit drei Jahren miteinander schliefen, er ihr eine passende Wohnung gesucht hatte und einen Teil der Miete zahlte, mit genau dieser Art von Gelegenheit im Hinterkopf, hatte es nicht mehr als ein halbes Dutzend Mal geklappt.

»Wenn du mich erträgst.«

»Na ja, schätze schon. Wenn du mir nicht zu sehr auf die Nerven gehst.«

Diese Unterhaltung spielte sich im ganzen Zimmer ab, denn Helen hatte nicht aufgehört, währenddessen die Materialien für die nächste Gruppe herzurichten. Niemand, der in diesem Moment hereingekommen wäre, hätte irgendetwas Unprofessionelles an ihrem Verhalten bemerkt. In den frühen Tagen ihrer Beziehung, als die Leidenschaft sie noch leichtsinniger machte, hatten sie den Kunsttherapieraum und seine Nebenräume oft für ihre Rendezvous benutzt. Jetzt waren sie vorsichtiger, oder vielleicht weniger leidenschaftlich. Keiner von ihren Kollegen, von der Klinikleitung bis zur Stationsbelegschaft, ahnte etwas von ihrer Affäre, und wenn Helen in seiner Gegenwart stärker errötete oder mehr als normal gelächelt hatte … na ja, so ging es jedem, der vom vollen Lichtstrahl von Gils Aufmerksamkeit getroffen wurde.

»Dann komm ich morgen nach dem Mittagessen zu dir. Kath wird das Auto nehmen, also werde ich wahrscheinlich zu Fuß kommen müssen.« Er dachte nur laut, er legte es nicht darauf an, dass sie ihm anbot, ihn mit dem Auto abzuholen. Helen hatte auch gar kein Auto – nur einen gebrauchten Motorroller, auf dem sie jeden Tag die sechs Kilometer von ihrer Wohnung in South Croydon nach Westbury Park zurücklegte.

»Gut. Dann koch ich uns was Schönes. Aber jetzt solltest du lieber gehen. Meine Männer können jeden Moment hier sein.«

Gil nickte und fuhr sich mit der Hand durchs dicke Haar, das größtenteils dunkel war, aber hier und da schon von grauen Strähnen durchzogen. Durch irgendeine Hexerei der Natur oder bewusstes Frisieren hatte es immer dieselbe schlampige Länge, gerade eben über den Kragen, schien aber nie länger zu werden oder plötzlich abgeschnitten worden zu sein.

»Ich liebe dich«, sagte er, und dann war er weg, und man hörte nur noch seine Schritte auf dem langen Korridor.

Helen machte das Radio an und schaltete zum dritten Programm. Die klassische Musik im Hintergrund, wenn sie sie nicht zu laut aufdrehte, hatte sich als die am besten geeignete herausgestellt, um eine Atmosphäre von Ruhe und Konzentration zu schaffen.

Dank ihrer kleinen Handgriffe war der Raum der angenehmste in der ganzen Klinik. Die bunten Mobiles, die sich sanft an ihren Angelschnüren