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Auf dem Polizeirevier herrscht reger Betrieb. Überall befinden sich Männer und Frauen in Uniform, die entweder herumlaufen, als wären sie gerade mit einer wichtigen Aufgabe beschäftigt, oder herumstehen und reden, als hätten sie alle Zeit der Welt. Die Luft riecht nach einer seltsamen Mischung aus Desinfektionsmittel und Schmutz, und das unablässige Klingeln eines Telefons dröhnt in meinem Kopf. Wir sitzen hier schon seit Stunden. Niemand hat uns irgendetwas mitgeteilt. Die einzige Interaktion zwischen uns und den Beamten bestand darin, dass sie uns gelegentlich anfunkelten, weil wir praktisch den gesamten Wartebereich einnehmen.
Ich hasse Polizeireviere. Ich war im letzten Jahr in vielen, und es wird nie besser – die Angst geht nie weg und auch nicht das tiefe Grauen, das mitten in meiner Brust sitzt. Polizeireviere erinnern mich an Tony, und jede Person, die ein Beamter in Handschellen an uns vorbeiführt, lässt mich erschaudern. Der einzige Grund, warum ich wie angewurzelt auf meinem Sitz klebe, anstatt so schnell wie möglich von hier zu fliehen, ist Aiden.
Nach der Festnahme holten Julian, Mason und Annalisa die Zwillinge aus dem Haus ihres Freundes, wie Aiden es verlangt hatte, und brachten sie zu Julian, damit seine Mutter auf sie aufpassen konnte. Alle anderen kamen zur Polizeiwache. Auch Julian tauchte etwas später mit Annalisa und seinem Vater Vince auf. Julian hat seine Größe und seine breiten Schultern eindeutig von seinem Vater geerbt. Vince hat ein strenges Gesicht und eine souveräne Ausstrahlung, die ihn vertrauenswürdig erscheinen lässt. Natürlich hat Julian seinen Vater um Hilfe gebeten, denn wir brauchen einen verantwortungsvollen Erwachsenen, und Aiden hat keinen anderen, an den er sich wenden kann. Außerdem ist Aiden mehr oder weniger mit Julian aufgewachsen.
Kurz nachdem Vince aufgetaucht war, kam auch Mason mit seinem Vater Brian. Die Erwachsenen gingen zur Polizei hinein, um sich über Aiden zu unterhalten, während der Rest von uns besorgt in dem kleinen Empfangsbereich saß.
Auch Mason hat sein gutes Aussehen von seinem Vater geerbt. Ihre dunklen Haare und ihre gebräunte, olivfarbene Haut sind fast identisch, doch Brian ist ein bisschen kleiner als sein Sohn. Außerdem fehlt Brians dunklen Augen dieser Funke eines Schalks, den Masons Augen oft versprühen – aber das hier ist ja auch keine glückliche Situation.
Während die beiden Väter mit den Polizisten reden, sitze ich aufrecht da. Aufmerksam beobachte ich sie. Es sieht nicht so aus, als würde es gut laufen. Brian fährt sich mit der Hand durchs Haar, wie auch Mason es tut, wenn er frustriert ist. Der goldene Ehering glänzt und steht im Kontrast zu seinem dunklen Haar. Mein Herzschlag hat sich nicht verlangsamt, seit wir uns hingesetzt haben.
Nach einer Weile wird Vince von einigen Beamten nach hinten geführt, während Brian sich zu uns setzt.
»Was ist los?«, fragt Mason seinen Vater.
»Sie haben Aiden im Moment in Gewahrsam. Ihm fehlen noch ein paar Wochen bis zur Volljährigkeit, also können sie ihn nicht ohne die Anwesenheit eines geeigneten Erwachsenen und eines Sozialarbeiters befragen. Wir versuchen herauszufinden, wer genau das sein könnte«, erklärt Brian, holt sein Handy heraus und geht einige Kontakte durch.
»Aber ohne Anwalt dürfen sie ihn nicht verhören! Sollten wir ihm nicht lieber einen Anwalt besorgen?«, ruft Annalisa.
»Er braucht keinen Anwalt. Er hat nichts getan!«, verteidigt Noah Aiden. »Er hat ungefähr sieben Alibis! Acht, wenn man den Typen mitzählt, der in der Pizzeria am Tresen arbeitet!«
Brian ignoriert Noah und steht auf. »Ich rufe jetzt einen Anwalt an. Hoffentlich ist er bald da.«
Und damit geht er weg, um einen ruhigen Ort für sein Telefonat zu finden, und überlässt uns unseren unproduktiven Sorgen.
Eine halbe Stunde später betritt ein professionell aussehender Mann in einem gebügelten Anzug das Polizeirevier, und Brian steht auf, um ihm die Hand zu schütteln. Sie sprechen mit einigen Beamten, die dann den Mann, von dem ich annehme, dass er Aidens Anwalt ist, in ein Hinterzimmer drängen.
Charlotte sitzt neben Chase. Leise unterhalten sie sich miteinander. Annalisa starrt jeden auf dem Polizeirevier an und sieht aus, als würde sie sich sehr bemühen, niemanden zu schlagen, der sie schief ansieht. Julian steht neben ihr und spricht mit Mason und Brian darüber, was mit Aiden passieren könnte und was wohl im Hintergrund vor sich geht. Noah sitzt neben mir, sein Fuß klopft schnell und unaufhörlich auf den Boden. Das Geräusch macht mich langsam verrückt.
Seit ich nach King City gezogen bin, hatte ich das Glück, all diese unglaublichen Menschen kennenzulernen – Freunde, die für mich wie eine Familie geworden sind. Ich hatte noch nie Freunde, die einem den Rücken frei halten, egal was passiert, und die auch in schwierigen Zeiten zu einem halten. An einem Freitagabend sitzen wir alle in einer Polizeistation, anstatt uns zu amüsieren, und das alles nur, weil wir uns umeinander und um Aiden sorgen.
Ich bin zwar dankbar, dass ich meine Freunde habe, aber ich hasse es, dass ich in einem unbequemen Stuhl in einem beigen Raum mit schrecklicher Beleuchtung festsitze, unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als zu versuchen, die Angst und die Sorgen, die sich in meinem Magen bemerkbar machen, zu ignorieren.
Nach einer Weile halte ich es nicht mehr aus und schlage mit meiner Hand auf Noahs Oberschenkel. »Hör auf!«, schnauze ich ihn an.
»Ich weiß, dass ich unwiderstehlich bin, Amelia, aber jetzt ist weder die Zeit noch der Ort dafür, übermütig zu werden«, sagt Noah.
Ich ziehe meine Hand zurück. Im Augenblick habe ich keine Lust auf seine Noah-Art. Sein Fuß hat aufgehört, unaufhörlich zu klopfen, aber ich fühle mich nicht besser. Warum dauert das so lange? Aiden hat nichts getan. All das hätte schon längst geklärt sein müssen. Oder etwa nicht?
Die Minuten vergehen schmerzhaft langsam. Charlottes strenge Eltern rufen an, und dann kommt ihr älterer Bruder, um sie und Chase abzuholen, der selbst besorgte Eltern hat, zu denen er nach Hause kommen soll. Wir versprechen, dass wir beide auf dem Laufenden halten werden.
Wie lange sind wir jetzt schon hier? Seit Stunden? Es ist schon nach zehn. Warum ist auf dem Polizeirevier nicht weniger los? Das Telefon hat nicht aufgehört zu klingeln. Ich bin kurz davor, jedes einzelne Telefon von seiner Schnur zu reißen und sie alle aus dem Fenster zu schmeißen. Das letzte Mal, dass ich so lange auf einem Polizeirevier war, war, als Tony mich zum dritten Mal gefunden hatte und ich vom Krankenhaus zum Revier hatte gehen müssen, um meine Aussage zu machen, was natürlich nutzlos war. Er ist immer noch da draußen und sucht nach mir. Und genau wie in jener Nacht setzt meine Fluchtreaktion ein – ich möchte so weit wie möglich von hier weglaufen, aber ich würde Aiden niemals zurücklassen.
Es ist kurz nach elf Uhr, als der Anwalt und Vince wieder herauskommen, leider ohne Aiden. Brian geht rüber und beginnt mit den anderen Männern zu reden. Kerzengerade und gespannt sitzen wir da, um das Gespräch mitzuhören. Die Väter unterhalten sich eine Weile mit einigen der Polizisten, dann gehen der Anwalt und Brian mit zwei anderen Beamten weg. Verwirrt schauen wir hinterher.
Vince kommt zu uns herüber. Er sieht müde aus, aber weniger frustriert, was hoffentlich ein gutes Zeichen ist. Als er sich uns nähert, stehen wir auf.
»Sie werden Aiden über Nacht festhalten«, sagt Vince, noch ehe sich jemand von uns erkundigen kann, »während sie sein Alibi überprüfen.«
»Sind wir nicht sein Alibi?«, fragt Julian.
Julians Vater bittet uns, zum Rand des kleinen Wartebereichs hinüberzugehen, wo wir uns von den anderen Anwesenden ungestört unterhalten können.
»Wir wissen jetzt Folgendes: Gregs Leiche wurde tot vor Aidens Haus gefunden. Er war ziemlich übel zugerichtet. Sie haben Aidens Handy am Tatort gefunden. Im Moment geht die Polizei von einem Todeszeitpunkt gegen sechs Uhr abends aus. Aiden befand sich seit halb fünf bei Mason zu Hause. Sie waren dort, bis sie gegen zehn vor sieben die Pizza abgeholt haben. Dann sind sie direkt zu Amelias gefahren. Die Überwachungsvideos der Kameras vor Masons Haus können beweisen, dass die Zeit stimmt, zu der...