Einleitung
Die glückliche Familie ist wie ein Phantom, nach dem man sucht. Nichts wünschen wir uns mehr als ihren Zusammenhalt und ein freundliches, liebevolles Miteinander, eine Familie als einen Ort, der Sicherheit gibt. Das ist eine menschliche Sehnsucht, und dieser Wunsch wird angesichts der Katastrophen um uns herum noch verstärkt. Die Realität ist anders. Familie steht oftmals für Konflikt, es wird geschimpft, beklagt, geschwiegen und geweint und sogar das Miteinander aufgekündigt.
Vom eigenen Kind verlassen! Nie hätte man sich das ausmalen können. Wohin mit all dem Schmerz, mit all den unbeantworteten Fragen? Für Sie, als Mutter oder Vater, die das betrifft, ist dieses Buch geschrieben.
Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei dieser Kündigung von Töchtern und Söhnen nicht um Familien, in denen erschreckende Zustände vorherrschen. Kontaktabbrüche treffen Menschen »wie du und ich«, Familien »wie deine und meine«. So ein heftiger Konflikt trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Bekannte, er findet sich überall.
Es gibt natürlich Familien, in denen Missbrauch, Gewalt, massive Vernachlässigung und Entwürdigungen zum Alltag gehören, Atmosphären und Situationen, bei denen es den erwachsenen Kindern angeraten ist, die Familie zu verlassen. Über diese Familien schreibe ich nicht. Das ist ein eigener Bereich. Ein Kind, das im Elternhaus bedroht worden ist und sich weiterhin bedroht fühlt, muss diese Zäsur machen. Um schwerwiegende psychische Erkrankungen in einer Familie kann es an dieser Stelle auch nicht gehen.
Ich schreibe vielmehr über die Fälle, bei denen junge Erwachsene das Gefühl haben: Ich leide unter einem emotionalen Mangel, bekomme nicht das, was ich brauche, oder ich bekomme von etwas zu viel, was ich gar nicht möchte. Man würde sich wundern, wie »normal«, im Sinne von bekannt, es in den betroffenen Familien zugeht. Die Kommunikation spielt dabei eine große Rolle, sie ist oft schwierig, es gibt viel Unausgesprochenes und meist läuft sie schon lange auf kleiner Flamme und verebbt dann ganz. Und das ist, wie Sie sehen werden, keine vereinzelte Problematik, sondern eine Wahrheit, die einen erstaunlich großen Teil der Gesellschaft betrifft.
Seit dem Erscheinen meines Buches über Mütter und Töchter im Jahr 2008 werde ich mit Anfragen, mit Briefen, die von Familienzerwürfnissen berichten, überflutet; es sind verzweifelte und traurige Berichte, aber auch wütende. Seit dieser Zeit berate ich fast ausschließlich Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten und erwachsene Kinder, die sich mitten in diesen Konflikten befinden. Diese erwachsenen Kinder melden sich, weil auch für sie das Ganze überaus schmerzhaft und problematisch ist, aber die Gespräche mit den Eltern sind in ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit bedrückend. Hunderte an Gesprächsnotizen aus meinen Beratungen sind die Grundlage dieses Buches.
In erster Linie sind es Frauen, also betroffene Mütter und Töchter, die sich an mich wenden. Männer melden sich selten, anteilig sind es etwa 10 Prozent, die bei mir Unterstützung suchen. Vor allem den älteren Männern fällt es immer noch sehr schwer, über sich oder über emotionale Themen zu sprechen. Eine Tatsache, die natürlich einen Einfluss auf dieses Buch hat, es wird häufiger um Berichte von Frauen gehen.
Erstaunlich ist, dass es keine wissenschaftlichen Studien, wenig Literatur gibt, die die Hintergründe der Kontaktabbrüche untersuchen, vor allem nicht, was das Erleben der verlassenen Eltern betrifft. Und so habe ich mit diesem Buch versucht, meine Erfahrung, meine Gedanken und Erkenntnisse zu bündeln, um die Ursachen des Zwistes zu ergründen. Geleitet wurde ich dabei von dem Satz, der mich seit Langem begleitet und den Moshé Feldenkrais formuliert hat: »Bewusstsein gibt uns die Freiheit, eine Wahl zu treffen.« Meine Überzeugung ist: Wenn man ein Handwer