Dezember 2025
Paul sitzt frierend auf dem Boden. Er zittert wie altes Espenlaub im Herbstwind. Er ist müde. Er kann nicht mehr. Zugleich tobt in seinem Inneren ein Kampf, der sich kaum mit Worten beschreiben lässt. Er fühlt sich wie die alte Hure Babylon, da er sich für immer einer Sache verschrieben hat, die sein Leben bis in die letzte Faser seines Körpers bestimmt. Die ganze DNA, sein Wesen und seine Seele sind nur noch auf diesen einen Götzen ausgerichtet. Hätte er Zeit und Geld, er würde ihm den prächtigsten Tempel mitten in Berlin errichten und alle Anhänger dieses Glaubens zu einer gigantischen Feier einladen. Doch das sind Fantasien, also huldigt er ihm täglich voller Inbrunst in seiner eigenen Innerlichkeit, unabhängig davon, ob sein neuer Gott für ihn da ist oder nicht. Sein Vorhandensein wie seine Abwesenheit bestimmen sein Leben gleichermaßen.
Er lungert mit seiner neuen Bekanntschaft direkt vor dem Bahnhof Zoologischer Garten herum. An diesem Ort hat sich der Charme vergangener Tage verflüchtigt. Der Bahnhof Zoo hat seine frühere Bedeutung verloren, ist nur noch eine Haltestelle mehr auf dem Weg in die Stadtmitte oder in die westlichen Randbezirke der Bundeshauptstadt. Es ist frisch. Kalt. Arschkalt. Die innere Kälte ist aber die schlimmste. Der Wind pfeift schnittig auch in die allerletzten Ritzen. Die beiden Männer sitzen auf einem Gitterrost, nur eine dünne Decke unter ihnen, die sie vorhin aus einer Mülltonne gerettet haben. Die Flecken auf der Decke ergeben ein eigenes, abgefahrenes Muster. Paul und Rolf kennen sich erst seit zwei Stunden. Dennoch kommt ihm Rolf wie sein bester Freund vor, mit dem er schon seit Jahr und Tag abhängt. Diese beiden Menschen verbindet etwas, das stärker ist als alle anderen menschlichen Emotionen. Etwas, das beinahe genauso alt ist wie die Menschheit. Die Sehnsucht des Menschen nach Rausch.
Die anonymen Passanten auf dem Hardenbergplatz eilen geschäftig an ihnen vorbei, die meisten gehen in das Bahnhofsgebäude hinein. Aber auch aus der Station strömen Menschen beinahe ohne Unterlass heraus. Paul nimmt nur noch Silhouetten wahr. Auch die Umrisse des Waldorf Astoria, die in den grauen Westberliner Himmel ragen. Keines der Gesichter nimmt Gestalt an. Sein Scheuklappenblick, den er seit Längerem nicht mehr ablegen kann, verhindert es. Menschen sind ihm inzwischen egal. Sein Leben dreht sich nur noch um diese eine Sache. Ein einziges Ding, das noch zählt. Und dennoch fühlt er sich nicht verloren, sondern geborgen und geliebt, wie nur Jesus lieben und geliebt werden konnte. Aber nur, solange es keinen Mangel an dem Manna gibt. Noch hat er die Gelegenheit zurückzukehren und aufzuhören, falls er das tatsächlich möchte. Für ihn ist das keine Frage: Er spielt mit dem Mat und nicht umgekehrt. Zum