VON DER HEILSAMEN KRAFT, GESEHEN ZU WERDEN
Menschen beginnen in dem Moment zu heilen, in dem sie sich gesehen fühlen.
»Er sieht mich einfach nicht.«
Als Bella diesen Satz ausspricht, füllen sich ihre Augen mit Tränen und die wütende Entrüstung, mit der sie zuvor über ihren Partner geklagt hat, wird von ihnen verschluckt. Bella sackt in sich zusammen, ihre Schultern fallen nach vorne, sie verbirgt das Gesicht in den Händen. Keine Spur ist mehr von der aufgebrachten, energisch gestikulierenden Frau zu sehen.
Stattdessen wird etwas erkennbar, was hinter all der Wut, Genervtheit und Verzweiflung steht: ein tiefer, fast unaushaltbarer Schmerz – der Schmerz, nicht gesehen zu werden.
Es gibt kaum etwas Heilsameres als das Gefühl, verstanden und gesehen zu werden. Es ermöglicht uns, echte Verbundenheit und Zugehörigkeit zu erleben. Wenn wir uns gesehen fühlen, fühlen wir uns sicher. Wenn uns jemand wirklich wahrnimmt, fühlen wir uns in seiner Gegenwart geborgen und können Mut schöpfen und Zuversicht fassen, um über eine Wunde oder uns selbst hinauszuwachsen. In dem Augenblick, in dem wir spüren, dass ein Gegenüber uns im eigenen Inneren willkommen heißt, können uralte, selbst über Generationen fortdauernde Verwundungen beginnen zu heilen. Die Würde eines Menschen oder eines ganzen Volkes wird wiederhergestellt, wenn Schmerz, Leid und Unrecht offiziell und aufrichtig anerkannt werden. Das Gefühl eines Opfers, allein und verloren zu sein, kann enden, wenn ein mitfühlender Mensch, der Ähnliches kennt, den Schmerz des Unaussprechlichen mit einem warmen Blick bezeugt.
Zu den heilsamsten Sätzen, die wir einander sagen können, gehören vermutlich diese: Ich sehe dich. Ich glaube dir. Du bist nicht allein.
Verdrängung als Überlebensstrategie
Sich nicht verstanden und gesehen zu fühlen, führt hingegen dazu, dass wir uns einsam, nicht zugehörig oder sogar wertlos fühlen. Solche Empfindungen können zum Schicksal werden und ein ganzes Leben bestimmen. Dann steuern sie unterbewusst unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Und das nicht etwa, weil sie uns immerzu quälend bewusst sind, sondern viel eher, weil sie unterdrückt und verdrängt werden. Sie sind so schwer zu ertragen, dass unser Inneres versucht, uns vor dem Schmerz, der in ihnen gebunden ist, zu schützen. Diese unbewusste Schutzstrategie hat auf Dauer einen hohen Preis. Denn was wir aus dem Bewusstsein drängen, verliert mitnichten an Bedeutung, sondern wirkt im Inneren wie im Außen fort, was vielerlei Konsequenzen hat:
- Was wir verdrängen, können wir nicht verarbeiten. Was nicht verarbeitet ist, behindert die persönliche Entwicklung und schmälert die Chance, aus den gemachten Erfahrungen zu lernen, an ihnen zu wachsen und sie nicht an andere weiterzugeben.
- Wir vermeiden nicht nur das, was wir ausblenden, sondern sämtliche Aspekte des Lebens, die damit verknüpft sind. So meidet etwa eine frühtraumatisierte Person, sich sportlich zu betätigen, weil der Anstieg der Herzfrequenz in ihrer inneren, unterbewussten Wahrnehmung (Interozeption) die Erinnerung an lange zurückliegende angstvolle Zustände des Kontrollverlustes wachruft. Dieses Meideverhalten geschieht nicht bewusst. Daher verstehen viele Menschen sich selbst nicht. Sie fühlen sich unzulänglich, denn es wäre doch gesund und vernünftig, Sport zu treiben, aber »irgendetwas« ist stärker als Vernunft und Wille und hält sie immer wieder davon ab.
- Was nicht verarbeitet und integriert ist, wird projiziert. Die Psychodynamik der Projektion zeichnet sich dadurch aus, dass wir Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse, die wir bei uns selbst ablehnen, auf eine andere Person oder ein Objekt übertragen, um uns im eigenen Inneren davon zu distanzieren. Dieser Abwehrmechanismus führt häufig zu der Tenden