1. Kapitel
Friesdorf, Juni 1908
»Tschö zusammen!«
Hans winkte seinen Kameraden. Obwohl er nicht sonderlich gerne zur Schule gegangen war, fiel ihm der Abschied schwer. Heute hatten sie das Abschlusszeugnis von der Volksschule bekommen. Danach hatten sie noch eine Zeit lang im Pausenhof gestanden und über ihre Zukunftspläne gesprochen. Jeder schien ganz genau zu wissen, wohin es ihn in den nächsten Jahren zog. Die meisten seiner Freunde hatten einen Lehrvertrag in der Tasche oder würden auf dem elterlichen Hof mitarbeiten, um ihn eines Tages zu übernehmen. Nur Hans hatte geschwiegen. Seine Zukunft lag noch in völliger Dunkelheit.
Missmutig kickte er einen Fichtenzapfen vor sich her. Es war nicht, dass er nicht wüsste, was er wollte. Im Gegenteil: Er wusste es ganz genau. Nur deckten sich seine Wünsche nicht mit den Vorstellungen seines Vaters. Und im Hause Riegel war das, was Peter Riegel für richtig hielt, Gesetz.
In der Schule war Hans immer derjenige gewesen, der gemeinsame Unternehmungen organisierte, die Kasse für Ausflüge verwaltete und als einer der Ersten in die Sportmannschaft gewählt wurde. Seine Klassenkameraden hatten ihn respektiert, und seine Meinung hatte Gewicht gehabt. Doch mit jedem Schritt, dem er dem Bauernhof seiner Familie näher kam, verwandelte er sich zurück in einen unbeholfenen Jungen, dessen Wort nichts zählte. Es war, als würde er immer ahnungsloser und unselbstständiger werden, je näher er dem Elternhaus kam.
Im warmen Schein der Nachmittagssonne lag der Hof friedlich inmitten von Feldern von Möschebohnen, die strahlend weiß blühten. Hans liebte die Suppe, die seine Mutter im Herbst und im Winter aus diesen Stangenbohnen zubereitete. Außerdem baute sein Vater noch Maiwirsing und Weißkohl an. Doch für Hans stand diese Idylle, die sich vor seinen Augen ausbreitete, vor allem für Enge und Stillstand. Er wollte hinaus in die Welt! Etwas sehen, etwas erleben, etwas schaffen, etwas Eigenes aufbauen. Nichts schien ihm fader, als den ausgetretenen Fußstapfen seines Vaters zu folgen, der neben seiner Arbeit auf dem Bau diesen kleinen Hof bewirtschaftete.
Er schob das Gartentor auf und ging auf das Haus zu, vorbei an den Apfel- und Birnbäumen, die dank des milden Klimas im Rheinland reiche Frucht trugen.
»Hans, Hans, hast du ein gutes Zeugnis gekriegt?«, hörte er eine aufgeregte Kinderstimme hinter sich.
Sein Bruder, der fünfjährige Paul, lugte hinter einem Holunderbusch hervor. Eigentlich hieß er ja – benannt nach dem deutschen Kaiser – Wilhelm Paulus, aber so wurde er nur gerufen, wenn jemand zornig mit ihm war. Was gar nicht so selten vorkam, denn er war ein richtiger Lauser. Der dreijährige Martin spielte neben dem Weg im Gras mit Bauklötzen und war darin so vertieft, dass er die Ankunft des ältesten Bruders gar nicht bemerkte.
»Es ist überraschend gut«, antwortete Hans zufrieden.
Er war in der Schule immer nur mittelmäßig gewesen, weil ihn der Unterricht gelangweilt hatte. In seiner Klasse mit achtundvierzig Kindern aus vier Jahrgangsstufen hatte er meist seinen eigenen Gedanken nachgehangen. Da er sich dabei still verhi