: Petra Gehring
: Biegsame Expertise Geschichte der Bioethik in Deutschland | Das neue Standardwerk
: Suhrkamp
: 9783518780558
: 1
: CHF 87.00
:
: Geisteswissenschaften allgemein
: German
: 1343
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Wann, wie und warum kam die Bioethik nach Deutschland? Wie konnte sie sich in der Turbulenzzone zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit so erfolgreich etablieren?InBieg ame Expertise schreibt Petra Gehring die spannende Geschichte einer Diskursformation, die binnen weniger Jahrzehnte in einer hochpolitischen Arena entstand. Denn Parlamente, Massenmedien und Protestbewegungen spielten hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie Medizin und Recht, Theologie und Philosophie sowie das Zauberwort »interdisziplinär«.< P>

Auf Basis zahlreicher Zeitzeugengespräche und umfangreicher Hintergrundrecherchen schildert Gehring die Debatten etwa um Organtransplantation und Hirntoddefinition, um »Retortenbabys« und Präimplantationsdiagnostik, aber auch die Kämpfe darum, was überhaupt als ethische Expertise gelten soll. Sie zeichnet nach, wie sich die Vorstellung einer instrumentell »anzuwendenden« Ethik zu einem wirkmächtigen Leitbild verfestigt hat.Und sie reflektiert kritisch die Rolle einer Ethik, die zugleich Wissenschaft, Auftrittsformat und mächtige Einflussgröße ist.Biegsame Expertise bietet somit auch eine Theorie der Macht der angewandten Ethik, ist aber vor allem ein fesselndes Stück Zeitgeschichte öffentlicher Moralität.



Petra Gehring, geboren 1961, ist Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Sie arbeitet zu einem breiten Spektrum von Themen, von der Geschichte der Metaphysik bis hin zur Technikforschung und zu den Methoden der Digital Humanities. Sie war u. a. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und ist derzeit Vorsitzende des Rats für Informationsstrukturen der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern sowie Direktorin des Zentrums verantwortungsbewusste Digitalisierung.

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1. Zur Einleitung


Wie kam es zu diesem Buch? – Drei Gründe für das Interesse am Thema – Was ist an angewandter Ethik umstritten? – Zum Aufbau des Buches – Methodisches – Vorbemerkung zum Wortgebrauch – Dank

Wie kam es zu diesem Buch?


Ethik – das klingt nach etwas Gutem und Wichtigem wie auch nach Stoff für die akademische Philosophie. Niemanden wird es also überraschen, dass eine Philosophin sich mit der Entstehung und Etablierung von Bioethik in Deutschland befasst. Allerdings ist dies hier kein selbst »ethisches«, sondern ein beobachtendes Buch. Ich sehe es als ein Stück Bioethik-Forschung, also nichtbioethische Forschung, sondern eine Forschungüber Bioethik. Wann und wie – so soll gefragt werden – kam die Bioethik, die in denUSA entstanden ist, nach Deutschland? Auf welchen Wegen und mit welchen Themen hat sie sich hier etabliert? Welche Konfliktgeschichten bilden sich in ihr ab? Und was ist Bioethik überhaupt, was leistet Bioethik-Expertise, wofür wird sie gebraucht?

Nach einigen Aufsätzen zum Thema wollte ich dieser Problemstellung schon lange einmal wirklich gründlich und materialnah nachgehen. Im Jahr 2012 traf ich dann auf den Soziologen Günter Feuerstein; es stellte sich heraus, dass er einem ähnlichen Gedanken nachhing, und wir taten uns mit dem Ziel zusammen, Zeitzeuginnen und -zeugen nach der Entstehungsphase der deutschsprachigen Bioethik zu befragen, Personen also, die aktiv beteiligt waren. Zwar lassen sich bioethische Positionen nachlesen. Aber wir wollten verstehen, wie Bioethik »verfertigt« wird, was neben ihrem wissenschaftlichen Profil ihre auch durchaus handfesten informellen Rollen sind: für die Gremienarbeit, für die Politik, für die Presse und in der Bildung. So haben Feuerstein und ich sowie zuletzt auch statt seiner der Soziologe Ludger Fittkau im Lauf von zehn Jahren fast neunzig Gesprä8che mit Bioethik-Beteiligten geführt, als Vorbereitung für ein Buchprojekt, dessen Realisierung sie dann aber mir überlassen haben. Das recherchierte Zeitfenster – nämlich 1970-2010 – bildete dabei das hauptsächliche Suchfeld für mögliche Entstehungsprozesse, an denen uns gerade auch ihre Diversität interessiert hat. Entsprechend gingen die Gespräche sowohl über Fachwissenschaftliches hinaus als auch immer einmal weiter zurück. Auf dieser Grundlage konnte ein Buch entstehen, das einerseits angetrieben ist durch eine abstrakte Leitfrage, die über eine bloße Entstehungsgeschichte weit hinausgeht: Wasist Bioethik eigentlich? Was macht sie aus, was macht sie attraktiv, was gibt ihr – als »angewandte Ethik«, die sie sein will – Erfolg und Macht? Andererseits will das Buch aber auch ganz konkret bleiben. Insofern beruht es auf sehr viel Lektüre, den schon erwähnten Gesprächen und auch eigenen Erfahrungen. Jede und jeder von uns hat zu Themen der Bioethik Bezüge, sie sind heute Teil unseres Alltags – was nicht immer in diesem Maße so war. In einige bioethisch genannte Kontroversen habe ich mich früher auch selbst eingemischt, zumeist mit Skepsis gegenüber typisch bioethischen Argumentationsweisen. Für die Zwecke dieses Buches habe ich diese Skepsis in einen Abstand zu übersetzen versucht, der die Freiheit bietet, kritisch zu sein, zugleich aber dem Gegenstand gegenüber fair bleiben will.

Während ich das Buch schrieb, wurde ich oft gefragt und habe immer wieder versucht zu erklären, wie ich das denn methodisch machen will. Ethikgeschichte – was wäre das überhaupt? Denn ich arbeite zwar zur Entstehung der Bioethik in Deutschland, bin jedoch keine Historikerin, und ich wähle auch weder eine genuin soziologische noch eine politikwissenschaftliche Perspektive. Die Antwort lautet: Der Gegenstand, den die Worte »Ethik« oder auch »ethisch« meinen – Ethik-Diskurse, Ethik-Expertise und auch Ethik-Präsenz in der Politik –, sprengt ohnehin den Rahmen der genannten Fächer. Zwar lassen sich ereignis- oder personengeschichtlich wie auch wissenschafts-, gremien-, professions- oder mediensoziologisch wie auch mit Blick auf politische Argumente und Aushandlungsprozesse Mosaiksteine größerer Muster zusammentragen. Es werden aber ebenso klassische Texthermeneutik, Diskursanalyse, Begriffsgeschichte ge9braucht, und einiges an kanonischen philosophischen Stoffen gehört unmittelbar zum Gegenstandsbereich. Auch die rhetorische Seite, die Kraft der bioethischen Hinsichten auf Biotechnologien, Biomedizin und »Leben«, ist für das Phänomen zentral. Für eine umfassendere Sicht auf Bioethikals Form von Ethik bedarf es daher eines maßgeschneiderten wie zugleich gemischten Zugangs. Einen solchen wähle ich – einräumend, dass die gewählte Darstellung eine experimentelle ist. Sie löst das Phänomen in den ersten beiden Teilen dieses Buches in eine Art Facettenblick auf.

Drei Gründe für das Interesse am Thema


Bioethik ist in alltagsprägender Weise politisch. Das ist einerster Grund dafür, sie als Gegenstand interessant zu finden und auch zu fragen, seit wann und warum es sie gibt. Wir bewerten Forschung danach, ob sie ethisch verantwortet werden kann, am Krankenbett werden ethische Entscheidungen getroffen, Krankenkassen mahnen uns, an Screenings teilzunehmen und Vorsorgevollmachten auszufüllen, Ethikdebatten füllen Feuilletons und das Internet, ja sogar inTV-Talkshows sind ethische Dilemmata Stoff für Pro-und-Kontra-Diskussionen. Aber auch privat verwenden wir manchmal Fachbegriffe wie »informierte Zustimmung«, »Reproduktionsmedizin«, »lebenswert« oder »selbstbestimmtes Sterben«. Auf diese Weise ist Bioethik in unserem Denken und in unserer Sprache präsent. Und dies beginnt früh. Wie biotechnische Dienstleistungen sind auch bioethische Argumentationsweisen Teil unserer Kultur. Ganz selbstverständlich lernen Kinder heute neben Mathematik und Deutsch auch bioethische Fallbeispiele in der Schule, denn Organtransplantation, Sterbehilfe und mehr gehören in Deutschland zum Unterrichtsstoff. Bioethik entfaltet Gestaltungsmacht dabei nicht nur in Form charakteristischer Inhalte, sondern auch als ein Mechanismus, der die Themen transportiert, auf eine Art von Entscheidungs- und Problemlösungsbedarf zuschneidet und dann auch zur Entscheidung bringt.

Bioethisches Reden und bioethische Regeln formen dabei Biome10dizin und Biotechniken ganz wesentlich mit, während diese unsere Welt immer weiter durchdringen. Vom Embryonenschutz bis zum assistierten Suizid, von der Organspende bis zur Stammzellforschung, zur Klonierung und zur Keimbahntherapie liegt Bioethik auch der Gesetzgebung zugrunde. Das war nicht immer so. Der weitreichende Erfolg derBioethics, mit eindrucksvollen Institutionalisierungen und Professionalisierungsprozessen – Beratungs-Institute, Berufsbilder, neue Forschungszweige, parlamentarische Anhörungen – hat einen renommiertenUS-amerikanischen Theologen von einer »amerikanischen Wachstumsindustrie« sprechen lassen (Gustafson 1990: 126; Gustafson 1998). Auch für Deutschland ist immer wieder von einem »Ethik-Boom« oder »Bioethik-Boom« die Rede.[1]  Hier stelle ich die Frage: Wie kam es zu diesem Boom und wie wird die Bioethik als Art, über Moral nachzudenken und Moralisches gesellschaftlich zu verhandeln, wirksam? Was macht sie als uns allen inzwischen selbstverständlicher Weg zu expertensprachlich aufbereiteten »Lösungen« attraktiv? Etwas anders gewendet: Was charakterisiert bioethische Expertise und worin liegen die Gründe ihrer Wirkmacht?

Zweitens ist Bioethik eine Neuerung, und das Neue an ihr besser zu verstehen, ist ebenfalls interessant. Man kann sagen: Mit der Bioethik als »angewandter« Ethik wurde ein neues, öffentlich wirksames Austauschformat geschaffen. Diese neuartige Ethik will konkret sein und sucht auch mit Laien und Betroffenen den Austausch über wertbehaftete Problemstellungen. Sie hält sich zugute, »nach unmittelbarer praktischer Relevanz« (Bayertz 1999: 87) zu streben. Als meinungsbildendes Sprachspiel schreibt angewandte Ethik dabei ihrerseits Meinungen...