: Sybille Krämer
: Der Stachel des Digitalen Geisteswissenschaften und Digital Humanities
: Suhrkamp
: 9783518781067
: 1
: CHF 30.00
:
: Geisteswissenschaften allgemein
: German
: 150
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Di Digital Humanities verstehen sich gerne als disruptiven Einbruch in das Feld des Hermeneutischen. Die Geisteswissenschaften wiederum verdächtigen die Digital Humanities der Kolonialisierung ihrer Interpretationskunst durch szientifische Methoden. Beide verkennen jedoch, wie sehr die Formen des Digitalen in den traditionellen Kulturtechniken der Literalität vorgebildet sind. Es gibt eine embryonale Digitalität akademischer Praktiken lange vor dem Einsatz der ersten Computer. In dieser Perspektive werden die zeitgenössischen Digital Humanities zu einer sinnvollen Erweiterung der Geisteswissenschaften. Diese Einsicht setzt allerdings eine Korrektur am geisteswissenschaftlichen Selbstbild voraus, die Sybille Krämer in zwölf Thesen pointiert entfaltet.



Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin im Ruhestand und seit 2019 Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen:<em>Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität</em>(2008) und<em>Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie</em> (stw 2176).

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These 1


Der ›Stachel des Digitalen‹: Wie die notwendige Korrektur am Selbstbild der Geisteswissenschaften und die Akzeptanz der Digital Humanities als methodische Erweiterung zusammenhängen

Die Zukunft der Geisteswissenschaften (Humanities; Sciences Humaines) hängt auch davon ab, ob es ihnen gelingt, die Digital Humanities als eine ernst zu nehmende Mitspielerin auf ihren Forschungsfeldern zu akzeptieren. Dies allerdings setzt die Bereitschaft zur Korrektur des geisteswissenschaftlichen Selbstbildes voraus; eines Selbstbildes, in dessen Zentrum Hermeneutik und Interpretation gerne zu Alleinstellungsmerkmalen und Schlüsselmethodiken verabsolutiert werden. Doch auch die Geisteswissenschaften handeln von Dokumenten, Monumenten, Artefakten und den Praktiken ihres Gebrauches. Diese zu erschließen, bedarf es eines ›Handwerkes des Geistes‹, welches zur Bedingung der Möglichkeit wird, Kulturen überhaupt beschreiben und verstehen zu können. Das Profil, die Reichweite und Grenzen dieser basalen geisteswissenschaftlichen Praktiken gründen in der konstitutiven Medialität und Materialität symbolischer Artefakte und deren kombinatorischen Verbindungen. Das ›Handwerk des Geistes‹ – und wir haben später zu zeigen, in welcher Weise dies wiederum wurzelt in einer ›Kulturtechnik der Verflachung– liefert genau jenes Bindeglied, welches die Tradition der Geisteswissenschaften mit den Digital Humanities verbindet.

Die Leitidee also ist: Die Digital Humanities[1]  ersetzen – selbstverständlich – die Geisteswissenschaften[2]  nicht, sondern erweitern ihr Methodenarsenal, und zwar dann, wenn Forschungsfragen durch empirische Arbeit mit großen Datensammlungen bearbeitet werden können. Im Panorama vielfältiger geisteswissenschaftlicher Forschungspraktiken, welche noch nie monolithisch aufgegangen sind in hermeneutischer Interpretationsarbeit, bilden empirische12und quantifizierende Verfahren in nicht wenigen Disziplinen eine sinnvolle Ergänzung. Allerdings darf nicht vergessen werden: Die sogenannten Geisteswissenschaften umfassen etwa 45 höchst unterschiedliche Fächer und gehen an ihren Rändern über in die Jurisprudenz, in die Sozial- und die Wirtschaftswissenschaften. Diese Diversität durchkreuzt bei der Frage, ob quantifizierende Methoden in den Geisteswissenschaften eine Rolle spielen können, jedwede Erwartung, die fachspezifischen Antworten über einen Leisten schlagen zu können. Eine gewisse Reserve gegenüber unserem Sprachgebrauch ist überdies geboten: Die Rede vonden Geisteswissenschaften suggeriert eine illusionäre Einheit und drängt folgerichtig die Frage auf, mit welcher Berechtigung dann überhaupt vonden Digital Humanities zu sprechen sei. Wenn wir im Folgenden also von ›Geisteswissenschaften‹ oder ›Digital Humanities‹ sprechen, ist diese Reserve gegenüber Vereinfachungen im Wortgebrauch – die gleichwohl unumgänglich sind – stets mitzudenken.

Doch ein methodologischer Kern der Digital Humanities lässt sich herausschälen: Von Menschen kaum mehr überblickbare und handhabbare Datenkorpora im Umfange kollektiver Teilgedächtnisse, die Worte, Schriften, Bilder, Fotos und Filme umfassen, können mithilfe computergenerierter, zumeist statistischer Verfahren auf implizite Muster im Datenmaterial hin analysiert werden und im Horizont insbesondere der Generativen Künstlichen Intelligenz[3]  auch zu neuen Mustern kombinatorisch gefügt werden.

Die Akzeptanz der Digital Humanities durch die Geisteswissenschaften kann den Anstoß geben, ein tradiertes Selbstbild zu revidieren, das – in zugegeben holzschnittartiger Zuspitzung – darin besteht, Lesen und Interpretieren zum Königsweg geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zu hypostasieren und als ihr Alleinstellungsmerkmal zu markieren und als deren Schlüsselmethodik noch gleich dazu. Dass dies ein Weg ist, der überhaupt erst gebahnt und gangbar wird durch die sorgfältige Erschließung geisteswissenschaftlicher Objekte in ihrer verkörperten Materialität und kontextuellen Situiertheit, wird allzu gerne übersehen. Doch es gibt keine Geisteswissenschaften, ohne dass raum-zeitlich situier13te Gegenstände wie Dokumente, Monumente und Artefakte aller Art gesucht, gesammelt, datiert, ausgezeichnet, klassifiziert, ediert, verglichen, kommentiert und archiviert werden. Akademische Gelehrsamkeit, deren klassischer Fokus symbolische Welten bilden, gewebt aus Texten, Bildern oder Musik, bleibt oftmals blind für ihr Angewiesensein auf Tätigkeiten, die gemeinhin unter dem Etikett ›Hilfswissenschaften‹ klassifiziert, wenn nicht gar abgeschoben und damit ein Stück weit unsichtbar gemacht werden in ihrer Grundlegung für die gelehrte Arbeit. Denken wir an Bibliothekswissenschaften, Buch- und Editionskunde, Paläographie, Epigraphik, Numismatik, Diplomatik etc., die in ihrer Empirizität gegenüber den klassischen, ›interpretierenden‹ Geisteswissenschaften eine Art von Schattendasein führen.

Und doch geht es hiernicht um eine Legitimierung der Digital Humanities, indem diese als eine neue Form hilfswissenschaftlicher Zuarbeit gedeutet werden. Markus Krajewski der die mediale Verwandlung der personalen Figur des Dieners in den digitalen Server untersucht hat, vertritt eine solche, nicht unelegante Deutung der Digital Humanities als Serviceleistung für die Geisteswissenschaften. Doch – so jedenfalls der Ansatz dieses Buches – die Digital Humanities bilden ebenkeine neue Hilfswissenschaft, sondern können und sollen zum integralen, allerdings interdisziplinär angelegten Bestandteil jener geisteswissenschaftlichen Disziplinen werden, in denen zentrale Forschungsfragen gestellt werden, bei deren Beantwortung und Reflexion quantifizierende, computergestützte Operationen mit großen Datenkorpora von Bedeutung sind. Was zweifelsohne nur durch Tuchfühlung mit informatischem Wissen überhaupt möglich ist. Obwohl die Rolle und Bedeutung ebensolcher Datenkorpora im Rahmen zeitgenössischer Künstlicher Neuronaler Netzwerke und des Deep Learning sich grundständig wandeln – und genau das wird zur Bühne, auf der die Digital Humanities ihren Auftritt haben –, gilt es, auch eine Kontinuität und Tradition zu akzentuieren: Denn Fluchtpunkt und Horizont dafür, dass zählende, berechnende Verfahren auch geisteswissenschaftlich von Belang sein können, bildet die Einsicht in ein grundständiges mediales Gegebensein, welchesallen geisteswissenschaftlichen Forschungsobjekten zukommt (das gilt übrigens auch für die Mathematik – bildet diese nicht die Reinform einer Geisteswissenschaft? –, die immer schon mit der Erfindung sinnlich wahr14nehmbarer Zeichensysteme zur Verkörperung ihrer noetischen Gegenstände zur Entfaltung kam). Zu verstehen, dass die Digital Humanities eine sinnvolle Ergänzung des humanwissenschaftlichen Forschungsrepertoires bilden, wird also nur gelingen, wenn zugleich anerkannt wird, dass den Geisteswissenschaften das ›Geistige‹ in Medien symbolisch-materialer Verkörperungen gegeben ist. Doch was hat diese mediale Konstitution geisteswissenschaftlicher Forschungsobjekte und -tätigkeiten zu tun mit einer Legitimation der Digital Humanities?

Wo immer raum-zeitlich gegebene Dinge oder Strukturen vorhanden sind, kann auch gezählt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass die Zahl, das Zählen und letztlich die Datenerhebung in den Geisteswissenschaften – und zwar von jeher – eine unersetzliche Rolle spielten: sei es in Fragen der Datierung von Kulturgütern und Ereignissen, in der Anlage von Werkverzeichnissen oder Konkordanzen, in der Erstellung von Stichwortregistern, Katalogen oder bibliographischen Indizes; diese Liste ließe sich fortsetzen.

Doch angesichts genau solcher Phänomene drängt sich ein Einwand auf. Was ist das überhaupt, was da gezählt wird? Es geht doch lediglich um Buchseiten, Erscheinungsjahre, Ereignisdatierung oder um Anzahlen und Abfolgen von Werken etc. Und natürlich sind auch Wörter und Sätze, ebenso wie Buchstaben und Silben – im Prinzip – zählbar. Doch was ist mit solchen Zahlenverhältnissen gewonnen, außer dem Skelett einer (terminologisch ausgedrückt) ›Metadaten-Infrastruktur‹, deren Prototyp allerdings die mit einer Zahl versehene, gedruckte Buchseite ist?

Im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Ehrenrettung der Zahl, um die es uns hier (auch) geht, drängt viel...