1. Die alte Dame
Wer es nicht gewohnt ist, seinen Alltag in einem Haus mit eintausendeinhundert Zimmern zu verbringen, dem kann man schwerlich verübeln, wenn er an einem solchen Ort den Überblick verliert – zumal wenn ein dringendes Bedürfnis dafür sorgt, dass man vor allem schnell gewisse Örtlichkeiten sucht. So wie Kate Bulloch, die nicht damit gerechnet hatte, dass die Führung durch Windsor Castle so lange dauern würde.
Die Leiterin der Gruppe holte gerade Luft, um ihren Vortrag über die Sammlung an da Vincis fortzusetzen, die die englische Krone ihr Eigen nennt, und Kate war in der Tat überwältigt. Allerdings weniger aus kunstgeschichtlichen Gründen, sondern vielmehr aus physiologischen. »Ehe wir in den Ostflügel gehen«, sagte die Museumsführerin, »gibt es Fragen?«
Ja! Gab es. Doch leider stand Kate zu weit hinten, um sich bemerkbar zu machen. Es wäre ihr auch peinlich gewesen – hier wurde gewiss kein »Wo sind bitte die Toiletten?« erwartet, sondern eher etwas wie: »Und in welcher Phase seines Schaffens hat Leonardo diese Skizzen entworfen?«
Zu den Vorteilen einer nicht ganz so vornehmen Abstammung gehört es, dass man früh lernt, sich unauffällig zu verdrücken. Und genau das tat Kate Bulloch, als die Gruppe sich auf zum nächsten Saal machte, staunend und raunend über all den Prunk, der sie umgab, und über den Atem der Geschichte, der sie hier umwehte. Denn das tat er! Windsor Castle ging immerhin zurück auf die Zeit von Wilhelm dem Eroberer, gewissermaßen dem Stammvater der heutigen Briten.
Während die Besichtigung mit dem berühmten Crimson Drawing Room weiterging, sah Kate sich unauffällig um. Ihre Freundin Zaira war irgendwo in der Gruppe verschwunden. Ein paar Schritte entfernt stand ein Aufseher, der verstohlen auf seinem Smartphone tippte. Eben noch hatte die Leiterin der Gruppe mit bedeutungsvoller Miene eine der »unsichtbaren Türen« für die Gäste geöffnet, von denen es angeblich Hunderte auf dem Schloss gab: schmale Durchlässe, die tapeziert oder getäfelt waren wie die Wand, in die sie hineingebaut worden waren, sodass man sie tatsächlich vollkommen übersah, wenn man nicht zufällig wusste, dass es sie gab. Nun, in diesem Fall war es nicht mehr zufällig, denn die Führerin hatte ihnen die Tür ja gezeigt … Der Aufseher wandte sich unter dem kritischen Blick der jungen Besucherin etwas von ihr ab, um weiter auf seinem Smartphone zu tippen. Und als er sich wieder zu ihr umdrehte, war sie verschwunden. Allerdings nicht im Tross der Gäste, sondern in der scharlachroten Seidentapete, mit der die Wände auf diesem Flur bespannt waren. Genauer gesagt: hinter der »unsichtbaren Tür«, die selbstverständlich für Fremde absolut tabu war!
So opulent die offiziellen Räumlichkeiten, die Zimmer und Flure, die Säle und Treppen in einem Anwesen wie Windsor Castle auch dekoriert sind, so schlicht, so nüchtern und trist sind die Gänge und Winkel, die Hauswirtschaftsräume und Vorratskammern, in denen sich die Bediensteten bewe