Riezlern im Kleinen Walsertal wurde von den Touristen sehr geschätzt. Die Einheimischen waren stolz auf ihre Heimat inmitten der grandiosen Bergwelt. Eine junge Frau aber begehrte sich jeden Tag von Neuem darüber auf, dass sie hier leben musste. Es war die achtundzwanzigjährige Ruth Fendt. Sie stammte aus Frankfurt und war durch ihre Ehe ins Kleine Walsertal verschlagen worden.
Die schöne blonde Frau wollte nicht einsehen, dass sie hier leben musste. Sie hätte in München wohnen können, denn dort arbeitete ihr Mann als Staatsanwalt.
Aber er war nicht dazu zu bewegen, sein Domizil in der Großstadt aufzuschlagen.
Dr. Christian Fendt stammte aus Riezlern. Seine Eltern hatten hier einen Bauernhof gehabt, den inzwischen fremde Menschen bewirtschafteten. Denn der einzige Bruder von Dr. Fendt, der den Hof übernommen hatte, war im Winter beim Holzrücken tödlich verunglückt.
Der junge Staatsanwalt hatte sich ein schmuckes Haus gebaut. Es stand etwas abseits auf einem Hang und wurde von vielen bewundert.
Am Freitagnachmittag kam Dr. Fendt nach Hause und blieb bis zum Montagmorgen. Oft nahm er auch während der Woche die Fahrt von München ins Kleine Walsertal auf sich, weil er jede Stunde, die er zu Hause sein konnte, schätzte. Es zog ihn immer zu seiner Frau und zu seinem fünfjährigen Töchterchen Annelie.
Dr. Christian Fendt war jetzt achtunddreißig Jahre alt. Er hatte die Hoffnung, bald eine Stelle auf einem der Gerichte der umliegenden größeren Orte zu bekommen. In den sechs Jahren seiner Ehe hatte er sich immer bemüht, seiner Frau Abwechslung zu bieten, weil er sehr bald erkannt hatte, wie unzufrieden sie war. Sie ließ sich jedoch nicht gern daran erinnern, wie schnell sie bereit gewesen war, ihm hierher zu folgen. Die Zeit des Verliebtseins war für Ruth schnell vorbei gewesen. Sie hatte sich das Leben an der Seite eines gut situierten Mannes ganz anders vorgestellt. Dass auch das Gehalt eines Staatsanwaltes eingeteilt werden musste, wollte sie nicht einsehen. Sie kaufte das, wonach sie gerade Verlangen hatte, und murrte trotzdem, dass sie sich so wenig leisten könne. Außerdem vermisste sie die Gelegenheit, im Mittelpunkt großer Gesellschaften zu stehen. Den Bekanntenkreis ihres Mannes ignorierte sie. Es gab hier niemanden, mit dem sie Kontakt bekommen hatte. Aber das lag nur an ihr. Sehr überheblich stufte sie die Menschen hier als zu ländlich in ihren Ansichten und in ihrem Auftreten ein. Oft machte sie sich auch über ihren Mann lustig und mokierte sich darüber, dass er der Sohn eines Bauern war.
Doch das empfand Christian Fendt nicht als Kränkung. Er machte nirgends einen Hehl daraus, dass er auf einem bescheidenen Hof aufgewachsen war. Aber immer erinnerte er sich daran, welche Opfer seine Eltern gebracht hatten, um seinen Wunsch, Jura zu studieren, erfüllen zu können.
Am meisten hatte die kleine Annelie unter der Unzufriedenheit von Ruth Fendt zu leiden. Auch sie fühlte sich in Riezlern wohl und hatte hier gute Freunde. Aber auch diese gefielen ihrer Mutter nicht.
Das zeigte sich auch an diesem Tag, als die blonde, meistens sehr lebhafte Annelie aufgeregt zum gegenüberliegenden Hang winkte.
»Ich bitte dich, lass das bleiben, Annelie«, sagte Ruth Fendt gereizt, »sonst kommt dieser Bauernjunge wieder zu uns herüber.«
»Aber Daniel soll doch zu mir kommen, Mutti«, erwiderte Annelie. »Deshalb winke ich ja. Er war schon zwei Tage nicht mehr hier und nur deshalb, weil er jetzt einen Freund hat.« Die dunklen Augen des Mädchens wurden traurig. »Dabei hat mir Frau Moser versprochen, dass Daniel jeden Tag eine Stunde zu mir kommen kann, wenn er seine Arbeit getan hat.«
Jetzt lief die Kleine ein Stück durch den Garten. Sie blieb auf einem Platz stehen, von dem aus sie besser zu dem geduckten Bauernhof gegenüber sehen konnte. »Siehst du den Jungen, Mutti?«, rief sie zurück. »Das ist Henrik. Er tobt mit Daniels Hund herum. Jetzt hole ich mir auch meinen Florian. Er ist heute so faul und schläft den ganzen Tag.«
Als Annelie ins Haus laufen wollte, hielt die Mutter sie fest. »Aber treibe es nicht zu toll mit Florian. Es macht mich krank, wenn er so laut bellt.«
Annelie brauchte nicht ins Haus zu gehen. Gerade kam ein grauweißer zotteliger Terrier durch die offen stehende Terrassentür gelaufen. Er sprang gleich an Annelie hoch.
»Er hat gehört, dass wir von ihm reden«, sagte Annelie stolz. Wieder sah sie zu dem Hof hinüber. »Mutti, Florian muss aber laut bellen, damit man es auf dem Moserhof hört. Daniel soll wissen, dass ich ja noch meinen Florian habe, wenn er nicht zu mir kommt.«
»Du hast Sorgen«, sagte Ruth ohne jedes Verständnis für das gekränkte Kind.
Auf einma