Im Kinderhort des Kaufhauses Loser in Sigmaringen war an diesem Tag wieder einmal Hochbetrieb. Um die Nachmittagszeit kauften viele Mütter ein und vertrauten ihre Kinder dann stets Schwester Marina an.
Die fünfundzwanzigjährige Kinderschwester wusste längst, dass so manches Kind nur deshalb mitkam, weil es im Hort »abgegeben«, wurde. Hier fand sich immer eine fröhliche Schar zusammen.
Es wurde gemalt, gebastelt und manchmal auch so übermütig gespielt, als sei man im Freien.
Auch jetzt ging es so laut zu, dass Schwester Marina eingreifen musste.
Das tat sie sehr entschieden, obwohl sie diesen Übermut nur ungern bremste. Ihrer Meinung nach gehörte er zu gesunden Kindern, aber sie wollte sich von dem jungen Geschäftsführer des Kaufhauses nicht wieder vorwerfen lassen, dass sie die Zügel zu locker lasse.
Jetzt kam ein kleines Mädchen herein und sagte: »Schwester Marina, draußen steht ein Mann.«
Aha, dachte die Kinderschwester, Rolf Bittner hat sich schon auf die Lauer gelegt, um mir wieder eins auswischen zu können.
Rolf Bittner war der Geschäftsführer, mit dem Marina in letzter Zeit immer wieder Zusammenstöße hatte. Sie wusste auch, warum er sie schikanierte. Sie hatte es nämlich abgelehnt, auf die von ihm geplanten Schäferstündchen einzugehen.
Wahrscheinlich bekam er nicht oft eine Absage. Er war ein gut aussehender Mann, der es verstand, den Mädchen den Kopf zu verdrehen.
Schwester Marina zog ihre weiße Schürze über dem blau-weiß gestreiften Schwesternkleid zurecht, steckte ein paar vorwitzige Locken unter das Häubchen und ging zur Tür. Ihr hübsches Gesicht sah sehr entschlossen aus. Diesmal wollte sie dem Geschäftsführer sagen, dass sie es leid war, dass er sich immer wieder vor der Tür des Kinderhorts postierte. Schließlich hatte man ihr versprochen, dass sie hier selbstständig arbeiten dürfe.
Schwester Marina hatte sich umsonst auf den Zusammenstoß mit Rolf Bittner vorbereitet.
Vor der Tür stand ein Mann, den sie nicht kannte. Er hatte einen kleinen Jungen an der Hand. Es war ein allerliebstes Kerlchen mit dunkelblondem Haar und großen braunen Augen in einem runden Gesicht.
»Wollen Sie den Jungen in den Hort bringen?«, fragte Schwester Marina den mittelgroßen schlanken Mann, der aussah wie ein Dreißigjähriger.
»Nein«, antwortete er. Doch das klang unsicher.
Schon verbesserte er sich. »Ich wollte schon, aber es ist so laut da drin, und Jerry ist nicht gewöhnt, bei Kindern zu sein.« Auf einmal sprach er schneller. »Aber ich müsste dringend ein paar Einkäufe machen.«
Die Blicke des Mannes ließen Schwester Marina nicht los, doch sie spürte das Fragen und Forschen in seinen Augen nicht, weil sie sich jetzt zu dem kleinen Jungen hinabbeugte. »Jerry, heißt du?«, fragte sie. »Das hört sich ja an, als wärst du ein kleiner Engländer.«
»Nein, das ist er nicht«, sagte der Mann rasch. »Ich werde ihn doch bei Ihnen lassen. Sind Sie Schwester Marina Becker?«
Schwester Marina richtete sich auf. Sie war sehr erstaunt. »Wieso kennen Sie meinen Namen so genau?«
Das schmale Gesicht des Mannes wurde unruhig. Er versuchte zu lächeln, aber das gelang ihm nicht recht. »Die Leute, bei denen ich in Sigmaringen wohne, haben mir Ihren Namen genannt. Sie haben gesagt, dieser Schwester können Sie den Jungen getrost anvertrauen, sie kommt mit allen Kindern zurecht.«
Jerry hatte Schwester Marinas Hand ergriffen. Er sah jetzt gar nicht ängstlich aus.
Die Kinderschwester öffnete die Tür. »Bitte, kommen Sie mit. Ich muss Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.«
»Wozu?«, fragte der Mann. Er war schon auf dem Sprung wegzugehen.
»Das ist Vorschrift. Ich darf den Jungen sonst nicht hierbehalten.« Wieder sah die Schwester den Mann erstaunt an. Seine Art beunruhigte sie.
Aber jetzt folgte er ihr zu dem Schreibtisch in dem Kinderhort und sagte plötzlich sehr willig: »Ich heiße Bernd Zimmermann und wohne in der Bodenseestraße siebenundzwanzig in Sigmaringen.«
Ein größeres Kind zupfte Schwester Marina am Ärmel. »Die Kleinen machen immerzu Streit«, beschwerte es sich.
Die Kinderschwester wandte sich dem kleinen Mädchen zu.
»Onkel!«, rief da der kleine Jerry plötzlich. Sein Gesicht verzog sich dabei zum Weinen.
Der Platz, auf dem eben noch Bernd Zimmermann gestanden hatte, war leer. Die Tür schloss sich gerade hinter ihm.
Ein komischer Kauz, dachte Schwester Marina. Sie stand vom Schreibtisch auf und führte Jerry zu den Kindern, die auf einer Tafel mit bunter Kreide malten. »Ob du das auch kannst, Jerry?«, fragte sie und drückte dem Jungen ein Stück Kreide in die Hand.
Zaghaft fasste der Kleine danach.
Er könnte drei Jahre alt sein, dachte Schwester Marina. Ich habe den Vater nicht einmal danach gefragt. Nein, nicht den Vater. Der Junge hat eben Onkel zu dem Mann gesagt.
Schwester Marina blieb unruhig, obwohl Jerry so eifrig zu malen begann, dass sie daran ihre Freude hätte haben können. Jedenfalls sah der Junge keineswegs ängstlich aus, wie dieser Bernd Zimmermann behau