»Tante Isi, Tante Isi!«, schallte es durch das Kinderheim Sophienlust.
Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. Denise von Schoenecker trat auf den Flur, ging bis zum Treppengeländer und sah in die Halle hinab. »Wo brennt es denn, dass ihr so schreit?« Sie strich sich über das schwarze Haar und lachte.
Ihr Sohn Henrik kam die Treppe heraufgestürmt. »So komm doch schon, Mutti, sonst versäumst du ja den Märchenonkel. Schwester Regine hat schon das Radio eingeschaltet. Gleich gehts los.«
Er kehrte wieder um, noch bevor er die Mutter erreicht hatte.
»Ja, beeile dich, Tante Isi«, riefen die anderen Kinder in der Halle.
Dann verschwanden sie im Aufenthaltsraum.
Denise von Schoenecker sah auf die Uhr und lächelte. Nun, es dauerte noch zehn Minuten, bis der Märchenonkel vom Stuttgarter Rundfunk seine Geschichte erzählen würde, aber natürlich waren die Kinder schon ungeduldig und in gespannter Erwartung.
Als Denise den Aufenthaltsraum betrat, legten einige der zwanzig Kinder den Finger auf den gespitzten Mund. Denise nickte. Ja, sie wollte leise sein. Schnell setzte sie sich an einen der Tische.
Da klang auch schon die sympathische Stimme von Eugen Luchs, dem Märchenonkel, aus dem Rundfunkgerät.
»Meine lieben kleinen Freunde, hier bin ich nun wieder: Habt ihr schon auf mich gewartet?«
Ein vielstimmiges Ja schallte durch den Aufenthaltsraum des Kinderheims. Die kleine Karin drehte sich zu Schwester Regine um und fragte: »Kann das der Märchenonkel jetzt hören?«
Schwester Regine schüttelte den Kopf. »Nein, hören kann er es nicht, aber er weiß ja, wie sehr ihr euch auf ihn freut. Pass auf, er spricht schon weiter.«
»Ich hatte euch das letzte Mal versprochen, heute von einem ganz großen, schweren und plumpem Tier zu erzählen. Von einem Elefanten. Und zwar von einem besonders gescheiten. Er hieß Timbo und war noch sehr jung. Ich habe ihn im Zirkus gesehen. Damals war ich noch ein kleiner Junge und lebte auf der Hallig Hooge. Davon habe ich euch ja schon erzählt. Nun, wenn man jahraus, jahrein auf einer so einsamen Insel mitten im großen Wasser lebt, dann sehnt man sich oft nach dem Festland. Es ist dann immer ein ganz gewaltiges Ereignis, wenn man die Insel einmal verlassen darf. Wird einem aber gar noch ein Zirkusbesuch versprochen, dann ist man noch zappeliger als vor Weihnachten.
Ja, ich konnte schon tagelang vorher kaum noch schlafen, so sehr freute ich mich auf die Tiere im Zirkus. Und als es dann endlich so weit war, gefiel mir am besten der kleine Elefant Timbo.«
Seinem Elefantenalter nach brauchte er noch gar nicht zur Schule zu gehen, aber er war trotzdem ein Rechenkünstler. Darauf schien er sehr stolz zu sein. Das sah man ihm an, als er in die Manege kam. Vor dem roten Samtvorhang mit den goldenen Tressen blieb er stehen und trompetete laut zu den vielen Kindern auf den Bänken hin. Dann trottete er in die Mitte der Manege. Seine Mutter Rani folgte ihm mit dem Mann, der Timbo dressiert hatte. Er hieß Fernando.
Alle Kinder rückten schon unruhig auf den Plätzen hin und her. Sie waren schrecklich neugierig auf Timbos Rechenkünste.
Der Elefant stand jetzt seelenruhig vor Fernando und sah ihn an.
Fernando sagte: »So, Timbo, nun zeige den Kindern, dass du wirklich ein Rechenkünstler bist. Wie viel ist eins und eins?«
Timbo sah aus, als würde er gleich vor Stolz platzen. Seine kleinen Augen verschwanden beinah zwischen den Falten seiner wulstigen Haut. Er stampfte zweimal mit seinem dicken Fuß in den Sand der Manege.
Wir Kinder freuten uns, jubelten und klatschten in die Hände.
Jetzt rief Fernando: »Timbo, wie viel ist zwei und zwei?«
Timbo konnte es kaum erwarten, auf seine Art zu antworten. Er stampfte viermal mit dem Fuß auf, dass der Sand nur so wirbelte.
Seine Mutter Rani stand still neben ihm. Sie beobachtete ihn mit besorgten Augen, wie jede Mutter das tut, wenn ihr Kind eine Prüfung zu bestehen hat.
Jetzt stellte Fernando dem jungen Elefanten die nächste Aufgabe. »Timbo, pass jetzt gut auf, ganz besonders gut. Jetzt kommt das Einmaleins«, Fernando sah uns Kinder an und sagte stolz: »Ja, ja, Kinder, ihr könnt es glauben, Timbo kann multiplizieren. Da staunt ihr aber, was?« Er sah den jungen Elefanten wieder streng an und fuhr fort: »Also, Timbo, wie viel ist ein m