»Ein Brief von Sascha«, rief Denise von Schoenecker verwundert aus, als sie den Umschlag mit der Handschrift ihres ältesten Sohnes, der in Heidelberg studierte, neben ihrem Teller entdeckte. »Sicher etwas Wichtiges. Sascha schreibt doch sonst nicht.«
Es war ein Samstagmorgen, und die Familie saß am Frühstückstisch. Es herrschte ausgesprochene Wochenendstimmung.
»Ziemlich dicker Brief«, stellte Henrik mit vollem Munde fest, während seine Mutter den Umschlag öffnete. »Aber geschrieben hat er kaum etwas«, fügte er hinzu, als er bemerkte, dass sein großer Bruder der Mutter einen Zeitungsausschnitt geschickt hatte, dem er nur einen Zettel beigefügt hatte.
Henrik war sieben Jahre alt und das jüngste Mitglied der Familie von Schoenecker. Der fünfzehnjährige Nick, eigentlich auf den schönen Namen Dominik getauft, reckte den Hals. Er wollte so schnell wie möglich erfahren, was Sascha geschrieben hatte.
Nur Alexander von Schoenecker, der Gutsherr von Schoeneich, fasste sich in Geduld und frühstückte seelenruhig weiter. Er wusste, dass seine Frau ihm ohnehin erzählen würde, was Sascha wollte.
Denise überflog zuerst die wenigen Zeilen von Sascha.
Liebe Mutter! Ich glaube, das wäre ein Fall für Sophienlust. Ob Du Dich einschalten könntest? Das kleine Mädchen und die beiden Hunde können einem leidtun. Herzliche Grüße an alle. Dein Sascha.
Denise griff nun nach dem Zeitungsausschnitt. Schweigend warteten ihre beiden Söhne. Sie verbargen ihre Neugier durchaus nicht. Nur die Einsicht, dass sie ihre Mutter durch Fragen nur am Lesen hindern würden, ließ sie still bleiben.
»Das ist wirklich ein Fall für Sophienlust«, sagte die schlanke dunkelhaarige Frau nun mit einem Lächeln. »Sascha hat einen Artikel entdeckt, in dem von einem Kind berichtet wird, das nach dem Tod seines Vaters in ein Heim gebracht wurde.«
»Ist es kein gutes Heim?«, unterbrach Nick seine Mutter aufgeregt. »Dann müssen wir das Kind sofort nach Sophienlust holen.«
»Das Heim ist sicherlich nicht schlecht, Nick. Aber das kleine Mädchen hat zwei große Hunde, die ihrem Vater gehörten. Da diese Hunde im Waisenhaus keinen Platz fanden, wurden sie verkauft.«
»Gemein«, warf Henrik ein. »Ist ihre Mutti auch gestorben? Hat sie sonst niemanden mehr?«
»Das Mädchen scheint ganz allein auf der Welt zu stehen. Es blieb wohl nichts anderes übrig, als das Kind und die beiden Hunde zu trennen. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass die Hunde ihrem neuen Eigentümer ständig weglaufen würden. Sie fanden den Weg zum Kinderheim und standen bellend vor der Tür, sprangen durchs Fenster ins Haus und ruhten nicht, bis sie ihre kleine Herrin entdeckten. Das wiederholte sich so oft, dass der neue Besitzer vom Kauf der Tiere zurücktrat. Jetzt will natürlich niemand mehr die Hunde kaufen. Vor allem aber mag sich das kleine Mädchen nicht von ihren vierbeinigen Freunden trennen lassen.«
»Ist ja auch wirklich nicht nötig. Wir holen das Mädchen nach Sophienlust, Mutti. Andrea nimmt die beiden Hunde bestimmt gern im Tierheim auf.«
Nick bekam heiße Wangen. Sobald es um Sophienlust ging, war er ganz und gar bei der Sache. Denn ihm hatte seine Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, den Herrensitz Sophienlust hinterlassen. Nach ihrem letzten Willen war dort eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder entstanden. Diese segensreiche Einrichtung wurde von seiner Mutter betreut, denn noch ging Nick zur Schule und konnte die Verantwortung für Sophienlust nicht selbst übernehmen.
Alexander von Schoenecker warf Nick einen liebevollen Blick zu. »Recht hast du, Nick. Ein Glück, dass wir nicht nur Kinder lieben, sondern auch Tiere.«
Denise ließ das Zeitungsblatt sinken. »Am besten, ich versuche mich mit dem Heim telefonisch in Verbindung zu setzen. Ich fürchte nämlich, dass das Kind recht unglücklich ist. Der Reporter hat die Meldung sicher nicht nur wegen der Treue der Hunde gebracht, die natürlich eine nette Story für seine Leser hergibt. Er empfindet wohl auch echtes Mitleid mit dem Kind, dem die Tiere nun doch wieder genommen werden müssen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sich eine Familie findet, die bereit ist, ein Kind und zwei Hunde bei sich aufzunehmen. So etwas ist eben nur in Sophienlust möglich.«
»Und in Andreas Tierheim«, fügte Henrik hinzu, obwohl er eben dabei war, das dritte Honigbrötchen zu verzehren, und infolgedessen schon wieder einen vollen Mund hatte.
»Zuvor solltest du aber wenigstens frühstücken, sofern deine Söhne dir noch etwas übrig lassen, Isi«, schaltete Alexander sich fürsorglich ei