EINS
DER MORGEN verspricht, was man nach der lang anhaltenden Kälte von einem Frühsommertag erwartet. Unwirklich blau leuchtet der Himmel über der Stadt. Die kühle Luft weht einen Hauch von Frische durch die Straßen, und der Verkehr in der breiten Allee hält sich in Grenzen.
Kriminaloberkommissar Hermann Kappe genießt das seltene Glück eines morgendlichen Frühstücks auf dem Balkon. Wenigstens für eine halbe Stunde darf er sich rundherum wohl fühlen, bevor er sich wieder dem täglichen Trott ergibt, der längst nicht mehr die alte, gemütliche Gangart ist, an die er sich in 23 Dienstjahren gewöhnt hat. Ein neuer Geist muss und wird hier einziehen, hat Kriminalpolizeirat Brettschieß schon ein paar Mal gedroht, und er und seinesgleichen meinen es ernst, das weiß Kappe. Wenn diese Richtung wirklich einmal an die Macht gelangt, dann gute Nacht, Marie.
So angenehm der Morgen scheint, Kappes Gedanken sind schon wieder im Dienst. Kein Wunder. Längst ist die Atmosphäre im Polizeipräsidium vergiftet von politischen Auseinandersetzungen, die mehr oder weniger offen ausgetragen werden. Die einen, zu denen sich Kappe stillschweigend zählt, halten sich an die verfassungsmäßige Ordnung, andere wie Liebermann von Sonnenberg oder neuerdings auch Nebe, der Chef des Raubdezernats, haben nur ihren Hitler und seine braune Partei im Kopf. Im Augenblick sind SA und SS zwar verboten, doch wen schert das schon. Auf den Straßen herrschen Einschüchterung und Gewalt, ständig gehen Rote und Braune aufeinander los.
Mord und Totschlag – dafür ist Kappe dienstlich zuständig, doch die meisten Delikte werden zurzeit der Politischen Polizei übertragen. Die hat sogar einen Beamten, den Polizeimeister Teichmüller, zur Mordinspektion abgeordnet. Teichmüller muss zwischendurch aber immer wieder im Felseneck-Prozess aussagen. Die Nazis hatten die rote Laubenkolonie überfallen, es hat Tote und Verletzte auf beiden Seiten gegeben, und die Richter versuchen vergeblich, Licht in das Dunkel der Tatnacht zu bringen. Am Ende werden die Braunen wieder gut dabei wegkommen.
Kappe seufzt und trinkt gedankenverloren seinen Kaffee aus.
«Na, sehr redselig bist du nicht gerade», sagt Klara tadelnd.
«Dabei hast du extra das Frühstück auf dem Balkon bestellt!»
Das hat er wirklich. Er liebt den Blick über die morgendliche Allee dort unten, in die von Osten her die langerwartete Sommersonne scheint. Mitte Juni, und noch immer ist es kühl. Das Gewimmel der Fußgänger, das Gebimmel der Straßenbahnen – Kappe klingt es angenehm in den Ohren. Selbst Klara hat sich inzwischen an die helle, große Wohnung und wohl oder übel auch an die Gegend gewöhnt. Das Kaufhaus von Hermann Tietz gegenüber mag das Seine dazu beigetragen haben. Dort kann sie immer mal einen Blick hineinwerfen, wenn auch selten etwas kaufen. Zaghaft hatte Klara einmal davon gesprochen, sich dort vielleicht als Verkäuferin zu bewerben. Was für ein Gedanke in diesen Zeiten! Überall wurde Personal abgebaut. Das Geld könnten sie schon gebrauchen. Kappes Gehalt ist gerade mal auskömmlich. Jedenfalls brauchen sie nicht zu hungern, und die Kinder gehen anständig gekleidet in die Schule.
Die verabschieden sich jetzt. Margarete wirkt wie aus dem Ei gepellt, Hartmut ist wie immer ungekämmt. Sie haben auf Klaras Wunsch – «Lasst mich mal ein paar Minuten mit Papa ungestört» – in der Küche gefrühstückt wie gewohnt, wo es den Jüngsten nun nicht mehr hält.
«Du wolltest mit mir in den Zoo, Papa!», kräht der vierjährige Karl-Heinz, Klaras Sorgenkind und Kappes Liebling.
«Aber nicht heute», vertröstet Kappe ihn, «vielleicht am Wochenende.»
Klara ist skeptisch. «Wenn sie bis dahin nicht wieder einen umbringen und du Tag und Nacht im Dienst verbringst», sagt sie spitz.
Kappe weiß, dass sie Recht hat, aber ändern kann er es nicht. Der Mord an einem Ehepaar vor einem Monat hat ihnen eine Menge Arbeit beschert, und jetzt müssen sie sogar noch nach einem gefährlichen Chicagoer Juwelenräuber fahnden. Sollen die Amerikaner sich doc