EINS
EXEMPLARE DER GATTUNG CALLIPHORIDAE, allgemein Schmeißfliegen genannt, konnten Leichen über mehrere Hundert Meter wittern, und so hatten sie die Tote als Erste entdeckt und ihre Eierpakete noch schnell abgelegt, bevor die kalten Tage kamen. Bald waren die weißen Maden geschlüpft und hatten sofort begonnen, mit ihren Mundhaken kleine Gewebestücke zu fressen. Danach hatten sich Aaskäfer und Ratten an der Toten gütlich getan. Die Grünverfärbung hatte eingesetzt, zuerst am Unterbauch, dann am gesamten Körper, die Augäpfel waren eingesunken, Fäulnisblasen hatten sich gebildet, der Leib hatte sich aufgebläht, rötliche Fäulnisflüssigkeit war aus Mund und Nase herausgepresst worden, die Haut hatte sich in Fetzen abgelöst, und das Gesicht war nun derart aufgedunsen, dass auch enge Verwandte die Frau nicht mehr wiedererkannt hätten, zumal Nase und Lippen abgefressen worden waren. Die Fettwachsbildung hatte eingesetzt, die Mumifizierung begonnen.
Karl und Eva Wolz wohnten am südöstlichen Ende der ewig langen Weserstraße, die am Hermannplatz ihren Anfang nahm und bis zur Ringbahn reichte, genauer gesagt bis zur Neuköllner Gasanstalt an der Teupitzer Straße. Bis zu ihrer Laube in der Kolonie «Stolz von Rixdorf» am Dammweg waren es, nahmen sie ein paar Abkürzungen, anderthalb Kilometer, also mit dem Fahrrad ein Klacks und selbst zu Fuß kein Problem. Und so protestierte er auch nicht, als sie vorschlug, zwischen Mittagessen und Kaffee einen kleinen Spaziergang zu machen und nach dem Rechten zu sehen.
«Ich habe so ein komisches Gefühl», sagte Eva Wolz.
«Wieso denn das?»
«Na, dass unsere Laube diesmal wirklich abgebrannt ist.» Diese Angst war nicht ganz unbegründet, denn es gab einige Laubenpieper, die Silvester gern draußen in der Kolonie feierten, weil man dort ungestört lärmen und riesige Feuerwerke veranstalten konnte. Letztes Jahr war dabei das Holzhäuschen eines Nachbarn in Flammen aufgegangen.
«Ich fürchte eher was anderes», sagte Karl Wolz. Dass nämlich einer der Besoffenen irgendwann mal ihre Laube aufbrechen würde, um dort seinen Rausch auszuschlafen.
Da es früh dunkel wurde, machten sie sich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg. Auf die beiden Kinder passte inzwischen die Oma auf.
«Wieder ein neues Jahr», sagte Eva Wolz.
«Was soll es schon Gutes bringen?» Karl Wolz war ein zu politischer Mensch, um nicht zu spüren, dass es im Gebälk der jungen Republik mächtig krachte. «Sie werden die NSDAP wieder zulassen - und dann …»
Karl Wolz, Elektriker bei der Gasag und seit fünf Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei, erinnerte sich an die blutige Schlacht, die es im gerade zu Ende gegangenen Jahr, in der Nacht vom 20. zum 21. März, gegeben hatte. Auf dem S-Bahnhof Lichterfelde-Ost hatte es ein kleiner Trupp von Kommunisten mit sechshundert SA-Leuten aufgenommen.
Eva Wolz war nicht so pessimistisch wie er. «Es kann doch alles nur noch besser werden.» Sie hatte zwei Brüder im Krieg verloren und als Kind zwei Winter lang mächtig gehungert und gefroren.
Sie gingen über die Teupitzer Brücke und dann am Neuköllner Schifffahrtskan