TAG EINS
ERSCHROCKEN blickten sich die Fahrgäste des D-Zugs aus Stralsund an. Wie bei einem Erdbeben hatte sich der Boden des Perrons bewegt. Ein Grollen in der Erde folgte. Die riesige Halle des Stettiner Bahnhofs schwang für wenige Sekunden wie eine Glocke. Als der plötzliche Lärm verklungen war, setzten die Fahrgäste ihren Weg fort, verließen Dampfross, Waggons und Bahnsteig, um sich vor dem Bahnhofseingang eine Taxe zu suchen. Andere wurden von Freunden oder Verwandten in Empfang genommen. Einige trotteten zur Station Stettiner Bahnhof der U-Bahn-Linie C, um in die Friedrichstraße oder anderswohin zu gelangen.
Auch vor dem Fernbahnhof war die Explosion zu hören gewesen, ein entsetzlicher Krach, dem ein Gerumpel in der Erde gefolgt war. Passanten hatten rasch die Quelle des Lärms entdeckt: Über einer Baugrube zwischen Stettiner Bahnhof und Gartenstraße stand eine zitternde graue Staubwolke. Nur die Spitze des 87 Meter hohen Turms der St.-Sebastian-Kirche ragte aus dem Staub hinaus.
Während ein Zug – proppenvoll mit Urlaubern, welche an die Ostsee wollten – den Bahnhof in Richtung Stettin, Danzig oder Rostock verließ, drückten sich die Nasen der Fahrgäste eines Busses der Linie 2 die Nasen am Fenster platt. Nach und nach fanden sich Gaffer an der Baugrube ein.
Die Grube war ein langer Einschnitt, 35 Meter breit und viele Meter tief. Tiefer als der Stand des Grundwassers. Sie war nicht offen wie beim Bau einer neuen Gasleitung, sondern zugedeckt. Tagelang hatten die Rammbären Stahlplanken in den Boden geschlagen.
Dann war der Boden zwischen den Planken nach und nach ausgehoben worden. Kräne, an welchen eiserne Mäuler mit stählernen Zähnen hingen, hatten die Erde gepackt, hochgehoben und auf Transportbänder fallen lassen. Die Kinder aus der Gegend um den Bahnhof waren nicht müde geworden, dieses Schauspiel mit aufgerissenen Augen zu verfolgen. Während sich die gefräßigen Maschinen in die Tiefe arbeiteten, wurden die Stahlplanken mit Hilfe dicker Hölzer untereinander verbunden. Ein tiefer rechtwinkliger Einschnitt war so entstanden. Und im Laufe der Wochen eine langgezogene Baugrube. Sie war mittlerweile an den Außenwänden isoliert, ausbetoniert und mit einem flachen hölzernen Dach aus Holzbohlen versehen, so dass die Kinder nur noch durch Ritzen oder Schächte in die Grube schauen konnten.
In diesem künstlich geschaffenen Raum sollte eine S-Bahn-Verbindung entstehen. Durch Sand, Mergel und Wasserläufe hindurch, unter Spree und U-Bahn-Tunnel entlang, würde sie unterirdisch vom Stettiner Bahnhof bis hinter die Yorkstraße führen. Es war ein Schnitt, der die Arterien, Venen und Nerven der Stadt nicht verletzte, sondern sie untertunnelte, umging, ihnen auswich. Die neue S-Bahn sollte die Vorstädte im Norden und im Süden mit dem Zentrum verbinden.
Wenige Minuten nach dem verstörenden Krach auf der Baustelle traf ein Krankenwagen der Charité ein. Ein Fahrzeug der Feuerlöschpolizei mit Drehleiter folgte. Dann war die Polizei da. Die drängte zuerst einmal die Gaffer beiseite. «Weg da! Macht Platz! Macht Platz, hab ich gesagt … Wird’s bald!»
Die Feuerwehrleute und ein Sanitäter der Charité stiegen auf eine Leiter, die zwischen den zerbrochenen Bohlen der Grubenabdeckung in die Tiefe führte. Einige Bretter ragten steil aus der Grube empor, andere waren zersplittert, wie von Riesenhänden zerbrochen. Auf der Seite zur Gartenstraße hin waren die Stahlplanken zur Seite gerutscht und unter dem Druck der Erde in die Grube gekippt. Dreck rieselte nach, Sand quoll hervor.
Die Zuschauermenge wuchs weiter an. Polizisten versuchten, die Menschen zurü