: Oxana Timofeeva
: Solarpolitik Ein philosophischer Essay über die Sonne, Natur und Gewalt
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751820035
: 1
: CHF 13.50
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: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 125
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ra, Tonatiuh, Surya, Sol invictus sind nur einige der Namen jener vielgestaltigen Gottheit, der die Menschen in früheren Zeiten in Ritualen und Gebeten huldigten und die mit dem Aufkommen monotheistischer Religionen schließlich auf die Rolle des sichtbaren Ausdrucks göttlicher Kraft reduziert wurde. Die Sonne selbst büßte indes nichts an Strahlkraft ein: Als Quell allen Lebens, dem immer auch ein destruktives Element zu eigen ist, befeuert sie spätestens seit Platon nicht nur unsere Vorstellung einer besseren Zukunft, sondern steht, wie die russische Philosophin Oxana Timofeeva unter Rückgriff auf Georges Bataille eindrücklich zeigt, für ein dringend benötigtes Gegenmodell zur auf unendliches Wachstum und Akkumulation zielenden, zerstörerischen Kapitalwirtschaft. Denn die Sonne ist reiner Überschuss. Sie verausgabt sich ohne Forderung nach Gegenleistung, ohne je an Grenzen zu stoßen. Eine politische Ökonomie also, die auf dem Prinzip der Sonne gründete, wäre eine des Altruismus und der Solidarität, eine, die sich verschenkt, sich ohne Berechnung verliert - und daher eine im Einklang mit der Natur stehende Möglichkeit jenseits aller bestehenden politischen Kategorien.

Oxana Timofeeva, 1978 in Sibirien geboren, ist Autorin und Mitglied im Ku?nstlerkollektiv Chto delat. Von ihr erschienen u. a.: Eto ne to [Das ist es nicht] (Limbach 2022), History of Animals (Bloomsbury 2018), Introduction to the Erotic Philosophy of Georges Bataille (New Literary Observer 2009) und bei Matthes& Seitz Berlin zuletzt Heimat. Eine Gebrauchsanweisung (2022).

I. Zwei Arten von Gewalt


Das Wort »Gewalt« dient uns als inflationäre politische Währung, die als Wechsel für alle Arten symbolischer Transaktionen herausgegeben werden kann. Da es aus der öffentlichen Politik und den Massenmedien kommend Einzug in die Alltagssprache hielt, findet es auf Handlungen und Verhaltensweisung Anwendung, die in unterschiedlichem Grad brutal sind, von Terrorismus bis hin zur Verletzung der Privatsphäre und der psychischen Autonomie einer Person. Polizeigewalt, sexuelle Gewalt, physische und emotionale Gewalt; Krieg; Gender-, häusliche, ethnische und rassistische Gewalt: Alle diese Arten erweisen sich als Universalien des gesellschaftlichen und privaten Lebens, sie bezeichnen entweder Situationen, die eskaliert und außer Kontrolle geraten sind, oder im Gegenteil: Situationen, in denen zu viel Kontrolle herrscht. Die anthropogenen Faktoren für den Klimawandel und das massenhafte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten können ebenfalls in Begriffen der Gewalt diskutiert werden: Eine ökologische Weise, die Welt zu betrachten, geht einher mit einem Bild vom Menschen als Summe seiner Technologien, der die Erde schändet, und von einer ausbeuterischen Ökonomie, welche die Erde gleichsam als Arsenal nützlicher Ressourcen behandelt. Schlussendlich kann jedes Tun oder Lassen als Gewalt, die etwas oder jemandem angetan wird, eingestuft werden. Auch indem ich mich zwinge, dieses Buch zu schreiben, tue ich mir Gewalt an.

Angesichts der aufgezeigten Bandbreite, wie das Wort gebraucht werden kann, lassen sich beim Nachdenken über Gewalt allgemeine Tendenzen feststellen. Erstens ist Gewalt definitiv ein Thema, das moralisch geächtet ist; zweitens durchdringt der Gewaltdiskurs alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es schwer ist, etwas zu finden, was nicht unter diese Etikettierung fallen würde. Gewalt ist moralisch missbilligt: Gewalt ist böse. Sie muss entlarvt und gebrandmarkt werden, ausgeschlossen