1. KAPITEL
„Ihr erwartet von mir, dass ich Vidal Marquez heirate?“
Elena sah ihre Eltern an, als hätten die beiden den Verstand verloren. Das war wirklich das Letzte, womit sie gerechnet hätte, als man sie gebeten hatte, nach Hause zurückzukehren. Was sie erwartet hatte, wusste sie nicht zu sagen, aber so etwas wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.
Ihre großen gold-braunen Augen weiteten sich vor Schreck, ihr Herz begann heftig zu pochen. Das war völlig verrückt! Wie konnten sie das ernsthaft von ihr verlangen?
Schließlich hatte Vidal ihre Schwester heiraten sollen. Vor Monaten hatten die beiden sich verlobt. Doch jetzt war ihre Schwester davongerannt, keiner wusste, wo sie sich aufhielt. Was also war passiert? Und wieso sollte sie jetzt an den Platz der Schwester rücken? Wieso war es so wichtig?
Es ergab überhaupt keinen Sinn.
Die strahlende Nachmittagssonne fiel durchs Fenster und ließ Elenas schwarzes Haar schimmern. Draußen war ein wunderbarer Tag, und hier drinnen im Haus der Eltern ging die Welt unter.
„Das ist ja lächerlich.“ Elena stand zu ihrer vollen Größe aufgerichtet stolz da, ihre Augen funkelten vor Empörung. Das seidige Haar, zu einem klassischen Bob geschnitten, schwang lebendig mit, jedes Mal, wenn sie den Kopf bewegte. „Ich habe nicht vor, in nächster Zeit zu heiraten, noch lange nicht. Ich habe schließlich ein Geschäft zu führen. Es hat mich Jahre gekostet, um dahin zu gelangen, wo ich jetzt bin. Das werde ich nicht aufgeben, um …“, sie holte tief Luft, „… den Ex-Verlobten meiner Schwester zu heiraten.“ Das „Ex“ betonte sie besonders scharf.
Elena liebte ihre Eltern von ganzem Herzen, aber sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, was die beiden zu einer solchen Idee bewogen hatte. Viele Paare trennten sich, ohne dass man von den Geschwistern verlangte, als Ersatz herzuhalten. Völlig abwegig kam ihr das vor.
So oder so war es unverständlich, dass Reina einfach davongelaufen sein sollte. Elenas ältere Schwester tat nie etwas Unerwartetes. Elena war immer der Wildfang gewesen, der die Eltern manchmal zu Verzweiflung getrieben hatte. Als sie damals nach Los Angeles gegangen war, hatten sie sich ernsthaft Sorgen um die Tochter gemacht. Heute war Elena erfolgreich als Hochzeitsplanerin tätig, während die ältere Schwester vor der Hochzeit davongerannt war.
Sie konnte sich vorstellen, welcher Schock das für die beiden Familien gewesen sein musste. Alles für die Hochzeit stand bereits fest, jeder, der in Spanien Rang und Namen besaß, war eingeladen.
„Es tut mir leid, dass Reina euch das angetan hat“, sagte Elena laut, während sie still bei sich dachte, dass es so besser war, als wenn Reina sich erst nach der Hochzeit eingestanden hätte, dass sie Vidal nicht liebte. „Geht es hier darum, nicht das Gesicht zu verlieren? Kann die Firmenfusion nicht trotzdem realisiert werden?“
„Eben nicht“, antwortete ihr Vater leise. „Davon haben wir dir nichts gesagt, aber … es war eine arrangierte Heirat, aus geschäftlichen Gründen. Wir alle dachten, Reina sei glücklich mit dem Arrangement. Wir glaubten, sie würde Vidal lieben. Aber …“ Er hob bedrückt die Schultern, ließ sie wieder sinken.
„Arrangiert?“ Elena konnte es nicht fassen. Das wurde ja immer bizarrer. „Kein Wunder, dass Reina weggelaufen ist! Und jetzt soll ich ihren Platz einnehmen?! Kommt ja gar nicht infrage! Niemals! Ich finde Vidal unsympathisch. Er ist ein aufgeblasener, arroganter …“
Ihr fielen genügend Ausdrücke ein, die sie im Hause der Eltern jedoch nicht benutzen würde. Sie schäumte vor Wut. Nicht nur brachte sie kein Verständnis für die Forderung der Eltern auf, sie hatte auch nie verstanden, warum man die beiden Banken unbedingt zusammenschließen wollte. Sie hatte nie den Ehrgeiz gehabt, in der Familienbank zu arbeiten, sie hatte sich für Freiheit und Unabhängigkeit entschieden. Die liebevolle Zuneigung der Eltern konnte manchmal erdrückend sein.
„Es gibt noch einen anderen Grund“, hob ihr Vater leise an und legte den Arm um die Schultern seiner Frau. „Ich sage es nicht gern, aber …“ Er atmete bebend durch. „Die Bank hat Probleme. Ich fürchte, wir sind ruiniert, wenn Vidal uns nicht übernimmt.“
Die Sorgenfalten auf seiner Miene hatte Elena bisher mit Reinas Flucht begründet, doch jetzt wurde ihr klar, dass etwas viel Ernsteres ihn beschäftigte. Auch die Augen der Mutter blickten trostloser, als Elena es je gesehen hatte.
Impulsiv ging sie zu ihr und schloss sie in ihre Arme. Ihre Mutter war immer