Prolog
Rede mit mir: Stimme! Spiegel meiner Gedanken! Sag, hast du etwa zu sprechen verlernt? Du mein Gewissen, oder zumindest das, was von dir noch übrig blieb, nach so verdammt vielen Jahren, die mir vorgaukeln, mein Leben gewesen zu sein.
Rede mit mir, zum Teufel noch mal! Rede!
Es gibt niemanden sonst, mit dem zu reden es sich für dich lohnte! Rede mit mir, Stimme aus der Tiefe meiner Seele. Und du, Ausgeburt meiner Fantasie, jenseits des trüben, milchig blinden Spiegels versteckt, gibst du doch tatsächlich vor, ich sein zu wollen? Wie in aller Welt gelangtest du zu dieser geradezu aberwitzigen Annahme?
Ich bin ich – ich bin nicht du! Ich bin Jaro! Merk dir das – ein für alle Mal!
„Nur ein Wort und du glaubst, ja du glaubst, mich zu kennen?
Nur ein Blick und du glaubst, dass du weißt, wer ich bin?
Ich bin ich! Ich bin ich, auf meine Weise!“,
heißt es im Refrain eines Songs von ‚Glasperlenspiel‘. Ich kann’s gar nicht oft genug hören!
Gemach, gemach! Langsam, nur nichts überstürzen! Ignorieren wir zunächst einmal, nur des Simplifizierens wegen, dass bei uns Menschen sechs bis sieben von zehn Anteilen Wasser sind, H2O, und dieses Wasser uns nur geliehen ist! Es gehört uns nicht, und es wird uns auch niemals gehören. Bestehen wir also weiterhin stoisch darauf, dass es sich bei mir, Jaro, tatsächlich um einen leibhaftigen Zeitgenossen des Anthropozäns handele, dann sprächen wir doch immerhin von eins Komma fünf Kilo Überbleibseln nach dem Verbrennen! Über Staub, mein Lieber, über pudrigen, mausgrauen Staub, der sich gemeinhin aus den Elementen Magnesium, Natrium, Kalium, Kalzium, Schwefel, Chlor, Phosphor und so manch anderen seltenen Elementen in Spuren zusammensetzt.
Ja, ja, gemach, gemach! Ich akzeptiere es doch. Ich kenne dieses sisyphosartige Streben der Spezies Mensch nach korinthenkackerischer Genauigkeit nur zu gut. Okay, dann bedienen wir uns ganz einfach der statistischen Methodik und legen in der letzten Konsequenz eine Gauß’sche Normalverteilung über das Gewicht dieser Asche. Dann entsteht vor unseren Augen unversehens die berühmt-berüchtigte Glockenkurve, die den jeweiligen Zeitläufen und Kulturräumen geschuldet hin- und herwabert, gallertartiger Grütze gleich, oder gar aufgeregt flattert wie eine Fahne im stürmischen Wind. In guten Zeiten der x-Achse folgend, sehr weit nach rechts ausladend – in schlechten Zeiten ganz weit links wie an einen Mast an die y-Achse geschmiegt! Mit keiner noch so ausgeklügelten Forensik wird es jemals in Erfahrung zu bringen sein, ob wir es bei diesen konkreten Überresten mit denen eines einst grausamen Despoten, denen eines gemeinen Lumpen, gönnerhaften Wohltäters, mutigen Helden oder gar eines gelehrten Pioniergeists der Wissenschaften zu tun hab