Das Mädchen
Der Junge und das Mädchen umkreisten sich langsam. Schmale Lichtstreifen, die durch die Spalten zwischen den Brettern ins Innere der Scheune fielen, wanderten über ihre Körper und die erhobenen Stöcke in ihren Händen. Aufmerksam beobachtete das Mädchen jede Bewegung seines Gegenübers. Wie würde er beginnen? Mit einem geraden Schlag, entschied sie, aus der Schulter heraus. Und hielt sich bereit. Da verlagerte er auch schon sein Gewicht auf das rechte Bein und machte einen Ausfallschritt mit dem linken. Der Stock zielte auf ihren Arm. Sie konterte, indem sie mit einer Bewegung von unten seinen Stock nach oben schlug. Den Schwung nutzend, drehte sie sich um sich selbst und landete einen Treffer auf die Nieren.
»Aaah«, rief der Junge und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den unteren Rücken. »Das tat weh.«
»Pass besser auf«, meinte sie nur und hob den Stock wieder in Kampfhaltung. Sie sah, dass er wütend war. Sein nächster Schlag zielte auf ihren Kopf. Sie tauchte seitlich darunter hinweg. Als sie seinen ungeschützten Bauch vor sich hatte, wusste sie, dass dieser Fehler in einem wirklichen Kampf sein Ende gewesen wäre. Sie widerstand dem Impuls, ihm einen Stoß zu versetzen, der ihn für die nächsten Minuten beschäftigt hätte. Er war immerhin ihr Bruder. Und ihr Vater würde es sicherlich nicht gutheißen, wenn sein Gjörgi mit schmerzverkrümmtem Leib aus der Scheune gehumpelt käme.
Er war jetzt vorsichtiger geworden, hatte vielleicht gemerkt, dass er sich mit dem letzten Ausfall eine Blöße gegeben hatte. War sich aber nicht sicher, ob sie diese Blöße wahrgenommen hatte. Wusste nicht, ob sie seinen Fehler übersehen hatte oder ihn vielleicht nur schonte. Dieser Verdacht, dass sie sich ihm überlegen fühlte, steigerte seinen Groll. So war es immer gewesen. Dabei war er ihr älterer Bruder. Doch obwohl ihn mehr als ein Jahr von ihr trennte, war sie bereits ebenso groß wie er. Und er wusste, dass sie mit ihrem hochgeschossenen, schlaksigen Körper genug Kraft hatte, um ein Schaf auf die Hinterbeine zu stemmen, wenn es geschoren werden sollte. Dennoch war sie ein Mädchen, und er ein Mann, zumindest würde er bald einer sein. Sie sollte zu ihm aufsehen, ihn respektieren und seinem Urteil vertrauen. Vielleicht hätte er ihre Frechheit gelassener nehmen können, wenn sie nicht so verdammt flink gewesen wäre.
»Was ist?«, fragte sie in leisem Spott, mit dem sie seinen Ärger verstärkte. »Willst du aufgeben?«
»Du kämpfst nicht ehrenhaft«, gab er zurück, den Stock, ebenso wie sie, mit beiden Händen umfassend. »Du kämpfst wie ein Mädchen.«
Sie lachte: »Vielleicht gewinne ich ja auch wie ein Mädchen. Oder glaubst du, dass die Ehre eines Mädchens darin besteht zu verlieren?«
Mit einem Mal wusste er, wie er ihr den Hochmut heimzahlen konnte. »Du wirst dir noch wünschen, deine Ehre zu verlieren«, sagte er mit höhnischem Triumph. »Aber es wird kein Stock sein, der sie dir nimmt. Zumindest keiner aus Holz.«
Augenblicklich verflog der Spott in den Augen des Mädchens. Sie wusste, was er meinte. Sie sah es tagein, tagaus, wenn die Tiere einander besprangen. Bei den Menschen hatte sie es nie gesehen. Dieser Teil des Lebens war von einem unheilvollen Dunkel umgeben. Vage Geschichten von Schuld und Sühne verhüllten ihn. An die Mutter, die ihr Antwort auf diese Fragen hätte geben können, hatte sie keine Erinnerung mehr.
Doch sie wusste, dieser Teil des Lebens war Schmerz und Tod. Dass ihr Bruder ihr ein solches Schicksal wünschte, erfüllte sie mit kaltem Zorn. Erst jetzt wurde ihr klar, dass auch er eines Tages einer Frau diesen Schmerz zufügen würde. So wie ihr Vater es getan hatte.
Ihr Vater.
Ansatzlos schnellte ihr Stock vor. Erst im letzten Moment gelang es Gjörgi, den Hieb abzuwehren. Sofort setzte sie nach. Schlag auf Schlag drang sie auf ihn ein. Verzweifelt bemühte er sich, ihre Angriffe zu parieren. Sie gönnte ihm keine Atempause. Mit einem harten, trockenen Knallen schlugen ihre Stöcke aufeinander. Von dem festgestampften Boden stieg Staub auf. Unzählige kleinste Weizen- und Gersteteilchen, die über Jahrzehnte hinweg von den Karren gerieselt waren, wirbelten durch die raschen Bewegungen der barfuß Kämpfenden hoch in die warme Luft. Sie setzten sich juckend auf ihrer verschwitzten Haut fest, legten sich auf die Schleimhäute ihrer heftig atmenden Münder und Nasen. Vermischten sich dort mit dem Geruch von Kuhdung und dem scharfen Urin der Tiere.
Das Mädchen, dem einst eine bis zu Tode erschöpfte Mutter den Namen »Thamar« über die blutige Stirn gehaucht hatte, nahm es nicht wahr. Ihre ganze Konzentration lag in den Bewegungen, mit denen sie die Deckung ihres Gegenübers zu durchbrechen suchte. Sie wusste, dass er stärker war als sie und dass ein gut platzierter Schlag sie von den Beinen holen würde. Aber sie wusste auch um ihre Schnelligkeit. Es