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»Leah, hilfst du mir heute oben im großen Haus? Mrs Delancey erwartet für morgen einen Gast, und ich soll eines der Zimmer im ersten Stock gründlich putzen und herrichten. Gott sei Dank ist Sommer. Wenn wir die Fenster aufmachen, kriegen wir vielleicht diesen schrecklichen Muffelgeruch heraus.« Doreen Thompson rümpfte die Nase.
»Natürlich komme ich mit«, antwortete Leah.
Ihre Mutter Doreen hatte praktisch kurz geschnittene, dichte braune Haare. Die Minipli, die sie sich kürzlich hatte machen lassen, war schuld daran, dass ihre Locken an Stirn und Nacken ziepten. Jahrelange harte Arbeit und Sorge hatten ihre stattliche Figur schlank gehalten, aber auch zahlreiche Falten in ihr siebenunddreißigjähriges Gesicht gegraben.
»Wunderbar. Zieh deine älteste Jeans an. In dem Zimmer ist es ziemlich schmutzig. Und beeil dich. Ich bereite nur noch schnell das Mittagessen für deinen Dad vor.«
Leah brauchte keine weitere Ermutigung. Sie eilte die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu ihrem winzigen Zimmer, wühlte unten in ihrem Schrank nach einer uralten zerschlissenen Jeans, holte ein abgetragenes Sweatshirt heraus und schlüpfte hinein. Dann setzte sie sich ans Fußende ihres Bettes, um im Spiegel zu überprüfen, wie sie ihre taillenlangen, mahagonibraunen Locken flocht. Mit dem schweren Zopf wirkte Leah jünger als fünfzehn. Doch als sie aufstand, waren in dem Spiegel bereits die Rundungen einer bedeutend reiferen jungen Frau zu sehen. Wie Doreen war sie immer schon groß für ihr Alter gewesen, aber im vergangenen Jahr schien sie geradewegs in die Höhe geschossen zu sein und überragte nun die anderen Mädchen in ihrer Klasse um einen guten Kopf. Ihre Mutter sagte gern, sie wachse zu schnell und solle mehr essen, um nicht so schlaksig zu werden. Leah kam sich ein wenig wie eine Sonnenblume mit einem langen wackeligen Stiel vor.
Sie zog ihre Turnschuhe unter dem Bett heraus und schnürte sie hastig. Leah begleitete ihre Mutter gern zum großen Haus. Das Farmhaus erschien ihr, verglichen mit dem engen Vierzimmerreihenhäuschen, in dem sie wohnte, sehr geräumig. Und sie fand Mrs Delancey faszinierend. Sie war so anders als alle anderen Menschen, die Leah kannte, weswegen Miranda sich ihrer Ansicht nach glücklich schätzen konnte, sie als Mutter zu haben. Nicht, dass sie ihre eigene nicht geliebt hätte, aber da Mum Dad pflegen und den ganzen Tag arbeiten musste, hatte sie manchmal schlechte Laune und schrie herum. Leah wusste, dass das nur an ihrer Müdigkeit lag, und versuchte, ihr bei der Arbeit zu helfen, so gut es ging.
Sie erinnerte sich nur vage an die Zeit, als ihr Vater noch laufen konnte. Er hatte Rheuma bekommen, als sie vier war, und die vergangenen elf Jahre im Rollstuhl verbracht. Dad hatte die harte körperliche Arbeit in der Wollspinnerei aufgeben müssen, worauf Mum als Haushälterin bei Mrs Delancey anfing, um Geld zu verdienen. In all der Zeit hatte Leah ihren Vater nie klagen gehört. Ihr war klar, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil seine Frau sich um ihn und den Lebensunterhalt der Familie kümmern musste.
Leah liebte ihren Vater abgöttisch und leistete ihm so oft wie möglich Gesellschaft.
Sie eilte nach unten und klopfte an der Tür des vorderen Raums. Als ihr Vater krank geworden war, hatten sie das Wohnzimmer in das elterliche Schlafzimmer umgewandelt, und eine Dusche sowie eine Toilette waren von der Gemeinde in der begehbaren Speisekammer neben