|30|2 Leitlinien
Eine umfassende diagnostische Einschätzung der Problematik des Kindes bzw. Jugendlichen und der psychosozialen Bedingungen setzt voraus, dass Informationen vonmehreren Quellen zusammengetragen werden. In den meisten Fällen sind die Eltern (oder andere Hauptbezugspersonen), das Kind selbst und Erzieher:innen oder Lehrkräfte die wichtigsten Informant:innen. In der Regel ist zumindest eine direkte Exploration der Eltern und des Kindes bzw. der Jugendlichen erforderlich. Bei Kindern, die im Zusammenhang mit dem Jugendamt oder der Jugendgerichtsbarkeit vorgestellt werden, und bei Kindern, die in Einrichtungen leben, müssen auch Informationen aus Institutionsberichten, von Einzelfall-, Familien- oder Bewährungshelfer:innen und oder von Betreuer:innen aus den Einrichtungen gesammelt werden. Bei Kindern, die stationär in Kinderkliniken oder in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken behandelt werden, müssen auch Beobachtungen und Einschätzungen des Pflegepersonals und anderer Therapeut:innen herangezogen werden.
Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Leitlinien zurExploration der Eltern, des Kindes und anderer Bezugspersonen (Leitlinien L1 bisL3) lehnen sich eng an die von derAmerican Academy of Child and Adolescent Psychiatry (1995,1997,2007) veröffentlichten sogenannten Praxisparameter (practice parameters) für die Untersuchung von Kindern und Jugendlichen an. In welcher Reihenfolge oder Kombination die Befragungen in der Praxis durchgeführt werden, hängt vom einzelnen Fall und den Rahmenbedingungen der Untersuchung ab. Eine gemeinsame Exploration von Eltern und dem Kind bzw. Jugendlichen ist häufig sinnvoll, um Eltern und Kind gemeinsam zu erleben und um ihre Interaktionen zu beobachten. Damit sowohl die Eltern als auch das Kind offen sprechen können, sollten Eltern und Kind jedoch auch getrennt exploriert werden.
L1 | Exploration der Eltern oder anderer Hauptbezugspersonen |
L1.1 | Exploration der Eltern: Basisdaten, Vorstellungsanlass, spontan berichtete Problematik und Erwartungen der Eltern |
L1.2 | Exploration der Eltern: Aktuelle psychische Auffälligkeiten des Kindes bzw. Jugendlichen |
L1.3 | Exploration der Eltern: Interessen, Aktivitäten, Kompetenzen und positive Eigenschaften des Kindes bzw. Jugendlichen |
L1.4 | Exploration der Eltern: Entwicklungsstand und schulische Leistungen des Kindes bzw. Jugendlichen |
L1.5 | Exploration der Eltern: Familiärer und sozialer Hintergrund |
L1.6 | Exploration der Eltern: Entwicklungsgeschichte des Kindes bzw. Jugendlichen |
|31|L1.7 | Exploration der Eltern: Einstellungen zur Therapie |
L2 | Exploration und psychopathologische Beurteilung des Kindes/Jugendlichen |
L2.1 | Exploration von Kindern und Jugendlichen (etwa ab dem Schulalter) |
L3 | Exploration von Erzieher:innen oder Lehrkräften |
L4 | Fragebogenverfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik |
L5 | Verfahren der Verhaltensbeobachtung, der Selbstbeobachtung und des ambulanten Assessments zur Verhaltens- und Psychodiagnostik |
L6 | Projektive Verfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik |
L7 | Verfahren der Familien- und Interaktionsdiagnostik |
L8 | Indikation für eine Entwicklungs-, Intelligenz- oder Leistungsdiagnostik |
L8.1 | Entwicklungsdiagnostik |
L8.2 | Intelligenzdiagnostik |
L8.3 | Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen) |
L9 | Integration der Ergebnisse der multimodalen Diagnostik |
In der Regel stimmen das Kind, seine Eltern und Erzieher:innen bzw. Lehrkräfte nur begrenzt in der Beurteilung der Probleme überein (De Los Reyes& Kazdin, 2005;De Los Reyes et al., 2019;Plück et al., 1997). Diese Diskrepanzen machen deutlich, wie wichtig es ist, vielfältige Informationsquellen zu nutzen. Die Unterschiede in den Beurteilungen und Informationen haben, wie inKapitel 1.3 dargestellt, eine Reihe von Ursachen. Zunächst einmal haben die...