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»Zappel nicht«, sage ich und tauche meinen Finger in ein Töpfchen mit weißer Farbe, das ich gestern im 1-Euro-Shop gekauft habe.
Emma hält abrupt inne und kneift ihr kleines Gesicht so fest zusammen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
Ich muss lachen. »Hast du Verstopfung? Du sollst nur stillhalten!«
Emma kichert. Sechsjährige kriegt man mit solchen Witzen. Einfach übers Kacken reden, schon bist du der Held. Ich schmiere die Theaterschminke über ihre Wangen, male mit Schwarz tiefe Augenringe und dann mit Weiß spitze Zähnchen.
»Ich brauche noch Blut!«, fordert Emma.
»Du brauchst Blut? Bist du jetzt wirklich ein Vampir geworden?«
»Nein, ich brauche noch Blut am Mund, Felix!«
»Jaja, okay, setz dich wieder hin.«
Als ich fertig bin, springt Emma auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie trägt einen schwarzen Umhang mit Stehkragen, schwarze Leggins, ein rot gesprenkeltes Shirt und dreht sich im Kreis wie eine Prinzessin, die gerade begeistert von ihrer ersten Menschenjagd heimgekehrt ist.
»Das muss ich Papa zeigen!«, ruft sie, rennt in den Flur und schreit: »Papa?!«
»Emmi«, seufze ich. »Papa musste früher los. Ich bring dich heute zur Schule. Komm, zieh dich an, und lass die armen Nachbarn schlafen.«
Vor unserem Block stehen Kürbisse in einer Reihe und warten darauf, abends angezündet zu werden. Ihre Fratzen sehen so früh am Morgen nicht besonders gruselig aus, eher müde.
Ich schließe Papas Lastenrad ab, Emma klettert in die Box und wir fahren los. Heute ist Halloween, trotzdem sind die Straßen voll mit dem üblichen Pendlerverkehr. Keuchend trete ich in die Pedale. Ich schwöre, dieses Kind wächst so schnell, dass sie mir bald Konkurrenz macht. Mein Blick fällt auf meine langen Finger, die Brille rutscht über den dünnen Nasenhöcker und ich schiebe sie ungeduldig wieder hoch.
»Felix!«, quengelt Emma, als wir an einer Ampel halten, mitten in einem Pulk anderer Fahrradfahrer.
»Was?«, erwidere ich.
»Können wir hier Stopp machen?«
»Wieso? Was ist los?«
»Ich muss dir etwas zeigen!«
»Emmi, wir müssen zur Schule.«
»Bitte, ganz kurz nur!«
Schnaufend steige ich vom Rad ab und drängle mich auf den Gehweg durch. Ich weiß nicht, ob das Fahrrad heute schwerer ist als sonst oder ich einfach besonders schlapp bin.
»Na gut«, keuche ich. »Was willst du mir zeigen?«
»Das lebende Haus! Lenny hat gesagt, es steht beim Schwimmbad.«
»Das – was?«
»Hast du nichts davon gehört? Fee, hast du keine Freunde? Alle reden über das Haus.«
»Sag mal!«, antworte ich. »Ichhabe Freunde. Und ich geh sowieso nicht gerne auf den Rummel.«
»Nein, es gehört nicht zum Rummel, es ist ein richtiges Haus, hier um die Ecke. Lenny hat gesagt, dass es zum Leben erwacht ist!«
»Na, wennLenny das sagt …«, beginne ich und will unser Fahrrad zurück zur Ampel lenken, doch Emma greift blitzschnell nach ihrem Gurt und schnallt sich ab. »Hey«, füge ich hinzu, »sitzen geblieben!«
»Können wir uns das Haus angucken gehen? Bitte? Nur ganz kurz.«
»Nein.«
»Wieso?«
»Weil wir zur Schule müssen.«
Diese Antwort ist kein valides Argument für Emma. Trotz meiner Widerworte klettert sie aus ihrer Holzbox und rennt einfach los.
»Was zum Teufel? Stopp!«
Emma ist schnell. In ein paar Sekunden hat sie den kleinen Platz an der Kreuzung überquert und biegt hinter der glatten, hohen Mauer des Schwimmbads ab. Ich eile ihr hinterher, das Rad hüpft polternd über schiefe Gehwegplatten.
»Emma?«, rufe ich.
Hinter dem Eingang ist nichts von ihr zu sehen. Der Verkehr der Bundesstraße dröhnt in meinen Ohren und mischt sich mit dem Kreischen und Zischen einer nahen Baustelle. Mist. Wir sind am Rand von Berlin – die Stadt übertönt mich mit Leichtigkeit. Langsam werde ich panisch. Was, wenn Emma auf die Straße rennt? Sobald sie richtig aufgeregt ist, guckt sie nie nach links und rechts. Ich versuche schon ewig, ihr das abzugewöhnen. In einer Kurzschlussentscheidung stoße ich das Rad in einen struppigen Busch und bete zu den Fahrradgöttern, dass es dort für fünf Minuten unbehelligt bleibt. Dann kämpfe ich mich durch ein Wirrwarr aus Bauzäunen.
»Emma?!«, rufe ich wieder.
»Hier!«, antwortet sie.
Erleichterung schwappt über mich, als ich einen kleinen Vampir finde, der neben einem abgesperrten Gehweg steht und auf die Fassade einer alten Villa deutet. Doch Emma ist so unbekümmert, dass meine Erleichterung zu Wut wird. »Du kannst nicht einfach wegrennen!«, blaffe ich. »Hier ist überall Verkehr! Willst du überfahren werden? Mann, reiß dich jetzt zusammen. Ich muss auch zur Schule.«
»Aber guck erst mal!«
»Nein, ich hab jetzt die Schnauze voll!«
»Aber guck doch!« Emma springt auf und ab und zeigt weiter auf die Villa, die ihrerseits von Bauzäunen und hohen Brombeerbüschen umgeben ist. »Das ist das Haus! Das Haus, das um Hilfe ruft!«
Ich trete neben sie und greife nach ihrer kalten Hand. »Schluss jetzt. Wir haben keine Zeit für den Mist, den Lenny erzählt.«
»Das ist kein Mist! Es steht sogar in der Zeitung, kannst du alle fragen. Selbst die Polizei war schon da, weil das Haus sie angerufen hat.«
»Du redest so einen Stuss.«
Emma stemmt sich gegen meinen Zug, versteift sich und rutscht über die sandige Straße. Ich bleibe stehen.
»Lass das!«, sage ich.
»Erst, wenn du guckst.«
»Schön. Bitte.«
Demonstrativ drehe ich mich zum Haus um. Keine Frage, es ist imposant, mit großen Fenstern und Säulen. In verblassten Lettern stehtTheodora über dem Eingang, wie bei den Kurhäusern an der Ostsee. Dennoch hat es die eigentümliche Atmosphäre eines verwaisten Gebäudes, einige Fenster sind vernagelt, der Garten ist überwuchert, das Dach eingesackt, und darüber hängt eine schiefe Antenne, so eine kümmerliche aus Draht. Alles scheint ein Stückchen gebeugt, als wären sogar die Mauern beschämt über ihren eigenen Verfall.
»So«, sage ich schließlich. »Ich habe geguckt. Jetzt gehen wir zur Schule.«
»Glaubst du, das Haus telefoniert, weil es sich einsam fühlt?«, fragt Emma.
»Das Haus kann niemanden anrufen, Emmi.«
Sie verdreht die Augen. »Hat es aber.«
»Unmöglich. Ich bezweifle, dass es in diesem Schuppen noch ein funktionierendes Telefon gibt, aber selbst wenn, dann wird es nichtvom Haus benutzt. Wahrscheinlich ist jemand eingestiegen und hat den Notruf gewählt. Als blöden Scherz.«
»Nein, eben nicht, weil als die Polizei hingefahren ist, war niemand da! Das hat das Haus gemacht. Glaub mir!«
Die Fensterfront der Villa spiegelt unschuldig den grauen Herbsthimmel. Emmas Story klingt für meinen Geschmack zu sehr nach etwas, womit man sich an Halloween gruseln will. Wahrscheinlich hat dieser Lenny sie aus der Kinderrubrik unserer Zeitung.
»Okay, du hast sicher recht«, erwidere ich versöhnlich. »Sind wir hier jetzt fertig?«
»Meinst du, ich kann meine Spirit-Box benutzen, um das Haus reden zu hören?«, antwortet Emma, ohne auf meine Frage einzugehen. »Wenn wir kurz noch mal zurückgehen und …«
»Spirit-Box?«, unterbreche ich sie. »Was hat Papa dir schon wieder für einen Scheiß gekauft?«
»Das ist kein Scheiß, das gab’s auch beim Channel von denGeistermädchen!«
»Du sollst so was nicht gucken. Du bist noch zu jung für Youtube.«
»Boah.« Emma stößt einen großen Seufzer aus und verdreht die Augen. »Du bist so langweilig, Felix!«
»Erzähl mir was Neues«, brumme ich. »Und nun komm. Die Schule wartet.«
Während ich Emma mit sanftem Druck zur Hauptstraße ziehe und sie tatsächlich mitkommt, schaue ich kurz zurück. Die Villa ragt wie ein verwitterter Holzstumpf aus dem Dickicht. Ein ungewohnter Anblick für diese Gegend, in der gerade so viel modernisiert und neu gebaut wird. Spitzengardinen hängen starr im Obergeschoss wie lange Teppiche aus vertrockneten Spinnenweben. Ich finde, es ist kein großes Rätsel, warum solche Ruinen ihre eigenen Geschichten kriegen. Etwas, das lange unbenutzt rumsteht, erregt halt...