: Alexander Kamber
: Nachtblaue Blumen
: Limmat Verlag
: 9783038552765
: 1
: CHF 17.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 120
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Paris um 1890, eine junge Cabaret-Tänzerin wird in die Nervenheilanstalt Salpêtrière eingeliefert. Um die Existenz der rätselhaften Krankheit «Hysterie» zu beweisen, veranstaltet der leitende Nervenarzt in der Klinik Vorführungen vor internationalem Publikum. Dabei scheint nicht alles mit rechten Dingen zuzugehen: Die jungen Patientinnen bewegen sich unkontrolliert, verdrehen die Augen, brechen vor der Zuschauerschaft zusammen. Auch die Tänzerin und ihre Freundin Cléo, der wegen ihrer Krämpfe Medikamente verabreicht werden, dienen als Fallbeispiele. Warum verschlimmert sich die gespenstische Krankheit bei ihnen stetig? Gibt es einen Weg raus aus der Salpêtrière, die man im Paris der Jahrhundertwende die «weibliche Hölle» nannte? Um nicht den Verstand zu verlieren, hält die Tänzerin alles in ihrem Notizbuch fest. Ein feiner und humorvoller Roman.

Alexander Kamber, geboren 1995, studierte Kulturwissenschaften in Zürich und Lüneburg. Zurzeit promoviert er an der Universität Zürich mit einem kulturgeschichtlichen Projekt zu Tanz und Theater um 1900, worin er die Schnittstelle von Bühnenkunst, Technik und Biowissenschaften erforscht. Sein erster Roman «All das hier» erschien 2018 im Limmat Verlag.

Alles begann, als ich aufhörte zu tanzen.

Es war ein Kinderspiel, ich trat von der Bühne ab, die Musik spielte weiter, und ehe ich mich’s versah, brachte man mich hierher.

Ich gebe mir größte Mühe, eine Erklärung dafür zu finden, aber es gelingt mir nicht. Es ist wie bei Cléo, die nur eine Armlänge entfernt neben mir liegt und im Gleichtakt mit den anderen Mädchen in die Dunkelheit schnauft. Eigentlich ist Cléo nicht ihr richtiger Name, aber wir nennen sie so, weil sie Kleptomanin ist. Anders als die meisten hier habe ich sie von Anfang an in mein Herz geschlossen. Es liegt an ihrem Lachen, sie beugt sich vor, setzt einen Fuß vor den anderen und lacht den Menschen ins Gesicht. Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Seit ihrem siebten Lebensjahr stiehlt sie wie eine Elster. Einmal hat sie einem gelähmten Clochard den Regenschirm gestohlen, der so löchrig war wie eine Käsereibe. Sie muss eines Tages ganz einfach aufgehört haben, an Eigentum zu glauben, genauso wie ich eines Tages aufgehört habe zu tanzen. Was gibt es dazu noch zu sagen? So ist das Leben.

Bei Vollmond erklingen hier die ganze Nacht lang Stimmen. Dann ist es, als würde das Haus Wache halten