: Serena Burdick
: Die Mädchen ohne Namen Sozialkritischer Thriller
: Festa Verlag
: 9783986761110
: 1
: CHF 7.10
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 496
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
New York in den 1910er-Jahren: Die Schwestern Luella und Effie wachsen wohlbehütet auf dem Familienwohnsitz auf. Doch nachdem sie ein schockierendes Geheimnis über ihren Vater herausfinden, ist Luella, die ältere der beiden, eines Morgens auf mysteriöse Weise verschwunden. Effie vermutet, dass ihr Vater seine Drohung wahr gemacht hat und sie in das House of Mercy, ein Heim für gefallene Mädchen, bringen ließ ... Also geht Effie dorthin, um ihre Schwester zu finden. Aber sie hat sich geirrt, Luella ist nicht dort. Dafür ist sie jetzt selbst eine Gefangene im House of Mercy - das alles andere als barmherzig ist. ... Da niemand ihrer Geschichte glaubt, gibt es für Effie keine Möglichkeit zur Flucht - es sei denn, sie vertraut dem rätselhaften Mädchen Mable ... Dieser akribisch recherchierte Roman enthüllt: Auch in Amerika gab es die berüchtigten Arbeitshäuser. Frauen und Kinder wurden gefangen gehalten, missbraucht und versklavt, während die Kirche mit ihnen Millionen verdiente. NEW YORK TIMES BOOK REVIEW: »Der Roman endet in einem Crescendo, das so fiebrig ist, dass die letzte Seite fast zu früh kommt.« PUBLISHERS WEEKLY: »Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Effie, ihrer Mutter Jeanne und Mable erzählt und verbindet üppige Prosa mit einer schnellen und packenden Handlung. Die Leser werden von dieser Geschichte tief bewegt sein.« KIRKUS REVIEW: »Ein fesselnder Thriller für Fans der Gilded Age Fiction!«

Die Amerikanerin Serena Burdick ist die Autorin mehrerer erfolgreicher Romane und gewann 2017 den International Book Award. Ihre Bücher wurden bisher in elf Ländern veröffentlicht. Sie studierte kreatives Schreiben und hat u. a. einen Abschluss des Brooklyn College in englischer Literatur. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Massachusetts. Ihre Website: www.serenaburdick.com

1

Effie

Luella und ich schufen uns gemeinsam einen Platz in der Welt. Streng genommen schuf ihn meine Schwester und ich folgte ihr, weil ich mich in ihrer Nähe in Sicherheit befand. Sie war älter, draufgängerisch und obendrein unberechenbar, was sie zu einer unkalkulierbaren Gefahr machte.

»Luella?«, rief ich in der Angst, dass sie mich verlieren würde.

»Ich bin hier«, hörte ich, nur dass ich sie nicht sehen konnte.

Der Wald von Upper Manhattan, der uns bei Tageslicht so vertraut war, war von der mondlosen Nacht verschluckt worden. Nun stolperten wir mit ausgestreckten Händen blind durch die Gegend, rannten gegen einen Baum, um mit der nächsten Umdrehung gegen einen anderen zu prallen, weil alles fremd und undeutlich wirkte.

Aus den Tiefen meiner Erblindung packte Luella mich am Arm und brachte mich ruckartig zum Stehen. Ich japste nach Luft und spürte meinen Herzschlag im ganzen Körper. Kein einziger Stern war am Himmel zu sehen. Luellas Hand an meinem Arm war der einzige Beweis, dass sie neben mir stand.

»Geht’s dir gut? Bekommst du Luft?«, fragte sie.

»Alles okay. Aber ich kann den Fluss hören.«

»Ich weiß«, stöhnte Luella.

Das bedeutete, dass wir in die falsche Richtung gegangen waren. Wir hätten gleich über die Anhöhe zur Bolton Road laufen müssen. Jetzt waren wir in der Nähe des Spuyten Duyvil Creek und weiter von unserem Haus entfernt als ursprünglich.

»Wir sollten die Straße finden und ihr nach Hause folgen«, sagte ich. Dort würde es wenigstens etwas Licht von den umliegenden Häusern geben.

»Dann sind wir aber doppelt so lange unterwegs. In der Zwischenzeit rufen Mama und Daddy die Polizei, damit die einen Suchtrupp losschickt.«

Unsere Eltern waren immerzu in Sorge – Daddy fürchtete um unser körperliches Wohlergehen, Mama um unsere Seelen. Ich wollte trotzdem zur Straße, denn sie würden uns ohnehin bald suchen. »Immer noch besser, als gar nicht nach Hause zu kommen«, jammerte ich.

Luella lief weiter und zerrte mich hinter sich her, bis sie abrupt stehen blieb. »Ich spüre etwas.« Sie machte noch einen Schritt. »Ein Holzstapel. Hier muss irgendwo ein Haus sein.«

»Dann könnten wir aber Licht sehen«, flüsterte ich, während ich auf matschigem Untergrund stand und den penetranten Geruch von Mist einatmete.

»Es ist einen Versuch wert.« Luella ließ mich los. »Ich gehe vor. Du hältst dich an den Holzstapel.«

Ich fuhr mit behandschuhten Fingern über die rauen, halbrunden Klötze, bis ich das Ende erreichte und ins Leere griff, während mich die Dunkelheit wie ein Tuch umhüllte, das ich von mir reißen wollte. In der Nähe vernahm ich das Rauschen des Flusses. Was, wenn wir direkt hineinstolperten? Nach wenigen Schritten streifte ich mit der Schulter einen Baum. Ich streckte den Arm aus, der Stamm war riesig. Als ich über die Vertiefungen und Rillen der Rinde strich, wusste ich plötzlich, wo wir uns befanden.

»Lu!«, stieß ich hervor. »Wir sind beim Tulpenbaum.«

Sie blieb stehen. Wir glaubten fest an Geistergeschichten und jeder kannte die Legende des Austernhändlers, der sich im wackligen Haus neben dem Tulpenbaum erhängt hatte. So nahe hatten wir uns noch nie an das Haus herangewagt, selbst bei Tageslicht brachten wir nicht genug Mut auf, um mehr als einen Blick von der Hügelkuppe darauf zu werfen.

Luella sog scharf die Luft durch die Zähne ein und sagte mit kräftiger Stimme: »Auch wenn es dort spukt, wohnt da jemand. Wenigstens ist es zu dunkel, um den Geist des Austernhändlers im Fens