1. KAPITEL
Nach Italien zu gehen, war – wie Charlotte fand – eine brillante Idee gewesen. Sie konnte ihre Sprachkenntnisse verbessern, Land und Leute kennenlernen und die Tatsache verdrängen, dass sie New York fluchtartig verlassen hatte.
Ein Schatten war auf ihr Leben gefallen, seit sie fälschlicherweise an die große Liebe geglaubt hatte. Sie gehörte zu niemandem, und niemand gehörte zu ihr. Vielleicht hatte diese Einsicht sie veranlasst, ihren Laptop vorerst nicht zu benutzen und so unerreichbar zu sein.
Zwei Monate lang war sie durch Italien gereist, auf der Suche nach etwas, das sie nicht ergründen konnte. Mit siebenundzwanzig, also in einem Alter, in dem die meisten Menschen ihren Weg gefunden hatten, wusste sie immer noch nicht, wohin ihrer führte.
Im Zug von Neapel nach Rom hatte sie an Don gedacht, den Mann, den sie einmal zu lieben geglaubt hatte. Da er sich jedoch nicht hatte binden wollen, war sie schnell auf Abstand gegangen.
Charlotte bereute es nicht, weil sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, dass er nicht der Richtige für sie gewesen war. Es war Zeit für etwas Neues. Doch wohin sollte sie gehen?
In Rom angekommen, hatte sie sich ein Taxi zumGeranno in derVia Vittorio Veneto, einer der elegantesten und teuersten Straßen der Stadt, genommen. Das Hotel verfügte sogar über ein Internetcafé, das sie sofort aufsuchte, um Kontakt zu ihrer Familie und ihren Freunden aufzunehmen. Um Don mitzuteilen, dass sie ihm gegenüber keinen Groll hegte und sie beide Freunde bleiben konnten, rief sie seine Seite in dem sozialen Netzwerk auf, in dem er aktiv war.
Erschrocken entdeckte sie dort die Zeilen, mit denen er sich für die Glückwünsche zu seiner und Jennys Verlobung bedankte.
Jenny! Sie hatte Don immer schöne Augen gemacht und war sehr sexy mit ihren aufreizenden Kurven.
Ganz anders als ich, dachte Charlotte.
Manch eine Frau hätte sie zwar um ihr Aussehen beneidet, denn sie war groß, schlank und mit ihrem dunklen Haar und den dunklen Augen ein Typ, der auffiel, und es war kein Wunder, dass sie immer Verehrer gehabt hatte.
Dass Don ihr nicht nachtrauerte, sollte ihr nur recht sein. Was vorbei war, war vorbei.
Als Charlotte schließlich ihre E-Mails abrufen wollte, sah sie sofort eine von ihrer Schwester Alex mit der BetreffzeileDas glaubst du nie!
Da Alex einen Hang zur Theatralik hatte, dachte Charlotte sich zunächst nichts dabei. Doch als sie die Nachricht las, erstarrte sie.
„Mom …“, flüsterte sie entsetzt, „das kann nicht sein!“
Ihre Mutter Fenella war in zweiter Ehe mit Cedric Patterson verheiratet. Ihr erster Mann war der texanische Rancher Clay Calhoun gewesen. Nach der Hochzeit mit Cedric war sie nach New York gezogen und hatte vier Kinder bekommen: die Zwillinge Matt und Ellie, sie und ihre jüngere Schwester Alexandra.
Liebe Charlotte,
anscheinend war Mom schon mit Matt und Ellie schwanger, als sie Clay verlassen hat. Sie hat es ihm in einem Brief mitgeteilt, aber zu dem Zeitpunkt war er schon mit Sandra zusammen, die ihm das Schreiben offenbar unterschlagen hat. Niemand wusste vor dem Tod der beiden davon. Clay ist letztes Jahr gestorben, und man hat die Nachricht ungeöffnet gefunden. Also hat er offenbar nie von der Existenz der Zwillinge erfahren. Was sagst Du dazu? Die beiden sind also nur unsere Halbgeschwister! Als Ellie es mir erzählt hat, konnte ich es nicht fassen. Ich bin immer noch ganz durcheinander.
Liebe Grüße
Alex
Schnell überflog Charlotte ihre anderen E-Mails, doch anders als sie erwartet hatte, war keine von Ellie d