1. KAPITEL
Verflixt! Eine Mücke hatte Lilly Appleton die halbe Nacht lang wachgehalten. Und nun verriet der Blick in den Badezimmerspiegel, dass diese ihr außerdem ein unschönes Andenken hinterlassen hatte: Ihr linkes Auge war völlig angeschwollen. Es sah schrecklich aus! Einen Schönheitswettbewerb würde sie so sicher nicht gewinnen. Sie stöhnte auf. Eins zu null für die Mücke.
Ausgerechnet heute. Sie war ohnehin schon spät dran. Routiniert steckte sie ihre hüftlangen rotblonden Haare zu einem strengen Dutt zusammen. Auch wenn sie sich nicht gern schminkte, in ihrem Job als Kellnerin in einem Londoner Edelrestaurant wurde gepflegtes Aussehen erwartet, und das bedeutete auch, dezentes Make-up aufzulegen. Sie presste mehr als üblich aus der Tube heraus, um das zerstochene Auge halbwegs abzudecken, aber das half nur bedingt. Die Mücke hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Auch Wimperntusche und Lidschatten konnten nur wenig bewirken. Sie würde sich damit abfinden müssen, heute wie ein Maulwurf auszusehen. Und sie wusste schon jetzt, dass ihre Chefin alles andere als begeistert darüber sein würde.
Tatsächlich, kaum hatte Lilly das „Chez Yvette“ betreten, stürmte diese mit zornfunkelnden Augen auf sie zu.
„Wie siehst du denn aus?“, tobte Yvette Lemaitre. Wie immer sah sie perfekt aus. Jedes Haar ihrer blonden Kurzhaarfrisur saß an der richtigen Stelle.
„Eine Mücke hat mich …“, begann Lilly.
„Mit diesem deformierten Gesicht kann ich dich doch nicht zu den Gästen lassen, was macht denn das für einen Eindruck?“, unterbrach Yvette sie unwirsch und gestikulierte Richtung Himmel, als wollte sie das Schicksal fragen, womit sie das verdient hätte. Das war typisch. Yvette war mit ihrem Personal chronisch unzufrieden, egal, wie gut die Leute arbeiteten. Man konnte es ihr im Grunde nie recht machen. Lilly litt schon seit geraumer Zeit unter der vergifteten Arbeitsatmosphäre und hatte bereits mehrmals überlegt zu kündigen. Andererseits gab es viele Stammgäste, an denen sie hing, und ihr Kollege Alec war inzwischen zu ihrem besten Freund geworden. Außerdem stimmte das Geld. Sie wurde überdurchschnittlich gut bezahlt.
„Am liebsten würde ich dich nach Hause schicken“, fuhr Yvette in anklagendem Ton fort. „Aber leider brauche ich dich heute dringend, ich habe niemanden, der für dich einspringen könnte.“ Sie machte eine wegscheuchende Handbewegung. „Also, los, mach dich an die Arbeit.“
Yvette drehte sich auf dem Absatz um und stürmte Richtung Küche.
Es gefiel Lilly ganz und gar nicht, wie ihre Chefin mit ihr umging, aber sie schluckte ihren Unmut herunter. Diskussionen mit Yvette führten, wie sie aus Erfahrung wusste, nur zu noch mehr Ärger. Während sie nach den blendend weißen Stoffservietten griff, um sie auf den Tischen zu verteilen, sprach Alec sie von hinten leise an. „Na, Lieblingskollegin, wohl nicht dein Tag heute“, flüsterte er mit sanfter, verständnisvoller Stimme.
„Das kannst du laut sagen“, entgegnete Lilly und sah ihn vielsagend an.
„Lieber nicht.“
„Was?“
„Na ja, laut würde ich das besser nicht sagen wollen.“
Sie lachten. Allerdings gemäßigt, um Yvette, die in Hörweite war, nicht noch weiter zu reizen.
„Tut’s weh?“, fragte Alec mit einem besorgten Blick auf Lillys geschwollenes Augenlid.
„Es juckt höllisch.“
„Ich kenne das, ich reagiere auch allergisch auf Mückenstiche.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann scherzhaft hinzu: „Aber nimm es mir nicht übel, ein bisschen siehst du schon aus wie Quasimodo.“
Lilly schlug gespielt empört mit einer Stoffserviette nach ihm. „Danke, das ist genau das, was ich jetzt hören will“, meinte sie ironisch.
„Ich weiß eben, wie man Komplimente macht.“
„Du alter Charmeur.“
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