Fast ebenso alt wie die Geschichte des jüdischen Volkes ist die seiner Zerstreuung. Sie beginnt mit dem in Psalm 137 beklagten Babylonischen Exil («An den Flüssen von Babel, dort saßen wir und weinten») im sechsten Jahrhundert v. Chr. und lebt über wechselnde Stationen bis heute fort. Aschkenas, dem dieses Buch gewidmet ist, ist dabei nur eine, aber die Geschichte Europas bis heute prägende Station. Ausgangspunkt und leitendes Motiv des Buches ist die Einsicht, dass die gesamte jüdische Geschichte von ihren Anfängen bis in die Gegenwart durch die Doppelgesichtigkeit von Mutterland und Diaspora bestimmt ist, dass es nie ein Mutterland ohne Diaspora gegeben hat und dass beide eng aufeinander bezogen sind. Das Narrativ vom judäischen[*1] Mutterland als dem einzigen und ewigen Kern und Zentrum des jüdischen Volkes und der Diaspora als einer Folge von Vertreibungen, angefangen beim Babylonischen Exil, ist eine Fiktion, die der Zionismus versucht hat – und bis heute versucht –, zur maßgebenden Doktrin des Staates Israel zu erheben. Mutterland und Diaspora waren und sind von jeher zwei Seiten derselben Sache, von denen keine Seite sich der anderen entledigen kann, ohne wesentliche Aspekte des Judentums aufzugeben.
Die seit dem Mittelalter in West- und Mitteleuropa, später dann auch in Osteuropa ansässigen Juden bezeichnen ihr Siedlungsgebiet nicht als «Deutschland», sondern mit dem hebräischen Wortaschkenas, das schon in der Bibel belegt ist. Die in diesem Siedlungsgebiet lebenden Juden sind Aschkenasen oder aschkenasische Juden. Der Komplementärbegriff istsefarad (Sefarden oder sefardische Juden) und bezieht sich auf die Juden in Spanien und Südfrankreich. Aschkenasen und Sefarden lebten in zwei sehr ungleichen Kulturkreisen, nämlich unter christlicher bzw. islamischer Oberhoheit, mi