Wege der Balance
„Von den frühesten Generationen bis zu uns, die wir heute leben, haben unsereVorfahren ein Wissen weitergegeben, das uns Orientierung bietet und anweist, uns regelmäßig zu versammeln, um zu singen, zu tanzen, zu beten und all unsere negativen Gefühle und Gedanken abzulegen. Uns wurde gesagt, wir sollen dieses uralte Rezept befolgen, um so unserem Volk und unserem Land Glück zu bringen und gute Medizin an die Kranken, Schwachen und Alten weiterzugeben. Es ist ein Prozess, der unser eigenes Leben wieder ins Gleichgewicht bringen wird. Wir sind aufgefordert, diesen Anweisungen Jahr für Jahr zu folgen.”
Julian Lang9
Geschichtenerzähler, Poet, Künstler, Grafikdesigner und Autor
des Karuk/Wiyot Volkes, Kalifornien, USA
Es ist erstaunlich und faszinierend, was die moderne Medizin zu leisten imstande ist. Es ist beruhigend zu wissen, dass man, wenn ein Notfall eintritt, in Intensivstationen oder mittels chirurgischer Interventionen am Leben erhalten werden kann. Und doch, die Sorge um unsere materielle Substanz – unseren Körper – ist nur eine Seite der Medaille. Das gesamte Leben betrachtend – das wissen wir letztlich alle – geht es um mehr.
Seit Jahrzehntausenden, über zahllose Kulturen auf allen Kontinenten hinweg, gilt als gesichert, dass es neben unserer physikalischen Wirklichkeit, in der wir den Großteil unseres Alltagslebens verbringen, eine geistige gibt.
Diese kann durch konventionell wissenschaftliche Instrumentarien (noch?) nicht sichtbar gemacht oder quantitativ nachgewiesen werden.10
Sie ist aber ebenso real wie die alltägliche Wirklichkeit und in bestimmten, veränderten Bewusstseinszuständen zugänglich. Ihre Existenz ist über die Zeit hinweg, transkulturell, durch direkte Erfahrung überprüft.11In dieser „nicht-alltäglichen Wirklichkeit“12stehen zusätzliche Erkenntnisquellen zur Verfügung: Ressourcen, die wir nutzen können, um das Überleben unserer Gemeinschaften zu unterstützen und unser eigenes Dasein gelingender zu gestalten. Dies galt für die Menschen der Steinzeit, so wie es für uns Menschen im 21. Jahrhundert gilt.
Core Schamanismus – eine moderne Übersetzung klassischer Prinzipien
In Europa – wie andernorts in der sogenannten „Westlichen Welt“ – haben wir den Zugang zu diesen Dimensionen des Seins großflächig verloren. Mit den Entwicklungen der Moderne, die uns (relativ gesehen) Sicherheit, Demokratie und Wohlstand ermöglicht haben, dem Christentum, der Wissenschaft und Technologie sowie der Säkularisierung und Globalisierung als dominante gesellschaftliche Strömungen seit der industriellen Revolution haben wir in den letzten knapp 250 Jahren einen Verlust spirituellen Wissens erlitten. Insbesondere seit Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts – wesentlich angefeuert durch zwei Weltkriege und enorme technologische Fortschritte – ist ein substanzieller Teil schamanisch relevanter Traditionslinien13verschwunden. Vereinzelte Praktiken sind nach wie vor vorhanden, werden aber oft dekontextualisiert, als „Brauchtum“ bezeichnet und hauptsächlich zu folkloristischen und/oder touristischen Zwecken „dargeboten“. Über die genuin spirituellen Hintergründe (etwa welche Wesen mit bestimmten Praktiken in Verbindung stehen) wissen wir nur mehr wenig bis gar nichts. Was bleibt, sind bloße Abläufe, Hüllen ohne Essenz, ohne Seele.
Parallel dazu hat ein gesamtgesellschaftlicher Prozess stattgefunden, der (unter anderem) in zunehmendem Habitat- und Artenverlust, Umweltverschmutzung und -zerstörung sowie insgesamt ökologischen Transformationen epochalen Ausmaßes mündete.
In einem derartigen Klima scheint der Core-Schamanismus14als moderne „Übersetzung“ des klassischen Schamanismus prädestiniert dazu, eine Wiederbelebung schamanischer Arbeit vor allem in „westlichen Kulturen“ zu ermöglichen. Von dem U.S.-amerikanischen Anthropologen Michael Harner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesensmäßig herausgearbeitet und auf transkulturellen Studien sowie universalen Prinzipien des Schamanismus beruhend, zielt der Core-Schamanismus darauf ab, Menschen in unmittelbaren Kontakt mit ihren eigenen spirituellen Helfer:innen zu bringen. Dies ist der wesentliche Schritt im Schamanismus. Die Grundlage dafür ist die direkte Erfahrung, weswegen (Core-)Schamanismus kein Weg des Glaubens, sondern ein Weg des Wissens ist.15
Aufgrund seiner kulturunabhängigen Konzeption ist der Core-Schamanismus gerade für jene Menschen geeignet, die Gefahr laufen, ihre schamanischen Traditionen zu verlieren oder diese bereits verloren haben. Mittels einer sicheren, kohärenten und effektiven Methodologie können Praktizierende ihre spirituellen Quellen und Ressourcen eigenständig und selbstbestimmt erschließen, ohne andere Kulturen imitieren oder gar Gurus folgen zu müssen. Damit repräsentiert der Core-Schamanismus einen Weg der Ermächtigung (Empowerment16), basierend auf den Prinzipien des Schamanismus, des Humanismus, der westlichen Kulturgeschichte und der Demokratie.17
Das Weltbild: Alles, was ist, ist lebendig
„Die Natur besteht für die Tyva nicht aus gesetzmäßigen Naturkräften, sondern aus einer Vielzahl von intelligenten Wesen, die über einen freien und starken Willen verfügen.“18
Die Grunderfahrung im Schamanismus lautet:Alles, was ist, ist lebendig.Dies trifft auf Menschen in gleichem Maße zu wie auf Tiere, Pflanzen, Steine, Orte, Landschaften oder die Erde.19
Alles, was lebendig ist, hat Seele oder Geist.20Ausgangspunkt ist nicht zwingend die Materie, sondern der Geist – die immaterielle Essenz, die vitale Kraft, die einer Lebensform innewohnt und sie zu dem/der macht, die er oder sie ist.21