Nora
»Pünktlich wie nie! Wie kann das sein?«
Ich liebe To-do-Listen. Das Gefühl, wenn man nach erfolgreich erledigter Arbeit ein Häkchen hinter eine Aufgabe setzen kann, ist die beste Belohnung. Am Ende des Tages sieht man, was man alles geschafft hat, und kann sich guten Gewissens in den Feierabend verabschieden.
So weit die Theorie. Ich scheine allerdings irgendetwas falsch zu machen, denn der Anblick meiner To-do-App bereitet mir heute Abend wieder einmal eher Bauchschmerzen. Das liegt an den vielen Feldern ohne Häkchen. Wie komme ich Freitagabend um kurz vor 5 Uhr dazu, noch so viele unerledigte To-dos auf der Liste zu haben?
»Schönen Abend dann noch, Frau Lichtenberg ... Ich meine, Leonor!«
Ich lasse das Smartphone sinken und reiße den Kopf herum. »Was?«
Braune Rehaugen schauen mir verschreckt unter einer wolligen Pudelmütze entgegen. Der Lidstrich ist unsauber gezogen. »Schönen Feierabend wollte ich nur wünschen.« Gabriella versucht sich an einem Lächeln. »Es ist ziemlich spät geworden und ich muss ...«
»Sind die Mails schon alle raus?« Ich scrolle durch meine Liste und überlege, welcher der offenen Punkte am dringlichsten ist.
»Nicht alle«, erwidert Gabriella. »Aber die wichtigsten. Den Rest mache ich dann am Montag. Am Wochenende ruft die ja eh keiner ab.«
»Ach nicht?«, rutscht es mir heraus und gleich darauf sehe ich, wie Gabriellas Mundwinkel nach unten sinken. Mist, eigentlich weiß ich, dass sie mit Sarkasmus nicht umgehen kann. Ich vergesse nur immer wieder, dass meine neue Mitarbeiterin mit ihren dreiundzwanzig Jahren zwar gar nicht so viel jünger ist als ich, aber eben einfach ein bisschen empfindlich. Und sie legt Wert auf einen pünktlichen Feierabend. Daran muss ich mich wohl erst noch gewöhnen. Ich seufze. »Ja, Montag geht in Ordnung. Schönen Abend dann noch.« Ich versuche, nicht an meine eigenen noch ausstehenden Aufgaben zu denken, und ringe mich zu einem Lächeln durch. »Haben Sie Pläne?«
»Ja!« Gabriella rückt ihre Mütze zurecht und beginnt, sich nebenbei den Mantel zuzuknöpfen. Er ist aus beerenfarbenem Wollwalk und beißt sich mit dem Weinrot ihrer Stiefel. »Ich gehe mit ein paar Freundinnen ins Kino. Den neuen Marvelfilm anschauen. Und Sie?«
Ich nicke. »Auch ein Treffen mit Freundinnen. Online allerdings. Die Wege sind einfach zu weit.« Mein Blick wandert zu meinem Computerbildschirm. Wenn ich mich nicht schnell wieder an die Arbeit mache, schaffe ich die restlichen Punkte auf der Liste niemals vor 7 Uhr.
Über ihren Kleidungsstil und ihre Freizeitbeschäftigungen kann man denken, was man will – Gabriella ist