In diesem Kapitel wird zunächst über grundlegende Überlegungen eine Begriffseingrenzung vorgenommen. Dabei werden ausgehend von philosophischen Verweisen zunächst Reflexivität und Reflexion voneinander unterschieden und der Begriff im Kontext profession(alisierungs)theoretischer Bezüge diskutiert. Herausgearbeitet werden drei Spannungsfelder, in denen sich vorhandene Begriffsverwendungen bewegen.
1.1Reflexivität vs. Reflexion
Sarah Henn (2021) verweist darauf, dass häufig nicht präzise zwischen Reflexivität und Reflexion unterschieden werde. Es handele sich hier um
„erkenntnis- und handlungstheoretisch widersprüchliche Begriffe, deren Verwendung im Diskurs zwischen den Bedeutungen eines distanzierten Nachdenkens (im Gegensatz zum praktischen Tun), einer menschlichen Grundbedingung (Selbstbewusstsein), der Anwendung eines Denkmodus (Bezüge herstellen) und einer aus einer Handlungskrise resultierenden Notwendigkeit […] changieren.“ (ebd., S. 150)
Nach Daniel Wrana (2006) bedeutetReflexivität in der Alltagssprache „so etwas wie ‚gründliches Nachdenken und Erwägen‘“ (ebd., S. 14). In der Philosophie hingegen gehöre der Begriff „zu den ehrwürdigsten […] und zu den unbestimmtesten zugleich“ (ebd.). Er verweist auf Schischkoff, der Reflexivität als „‚das prüfende und vergleichende Nachdenken über etwas [...]; im engeren Sinne die ,Zurückbeugung’ des Geistes nach Vollzug eines Erkenntnisaktes auf das Ich [... und als] Denken des Gedachten, bzw. [als] die Kritik des Denkens am Denken‘ (Schischkoff 1991, S. 606)“ (Wrana 2006, S. 14) fasst. In der neuzeitlichen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie erlangt der Begriff eine zentrale Bedeutung:
„Indem Descartes das denkende Subjekt als eine von der Außenwelt klar unterschiedene Substanz imaginiert, die sich zweifelnd ihrer selbst vergewissert, wird dem Subjekt diese Erkenntnis seiner selbst zum unerschütterlichen Fundament des Wissens (Descartes 1915, S. 17, 22, 26). Oder anders: In der Rückwendung des Subjekts auf sich selbst, vergewissert es sich nicht nur seiner Vollzüge, sondern gewinnt zugleich das Fundament für eine gesicherte Erkenntnis seiner Außenwelt.“ (Wrana 2006, S. 15)
In der Subjektphilosophie der Aufklärung erhält Reflexivität dann einen normativen Gehalt, durch den „der Mensch (zumindest im Allgemeinen) angehalten ist, sich der Kräfte und Vermögen seines Denkens in vollem Umfang zu bemächtigen“ (ebd., S. 16). In der Bildungstheorie wird nach Wrana „Reflexivität nicht einfach als Selbstbeobachtung, sondern als die Bewegung der Selbstkonstitution des Subjekts gedacht“ (ebd., S. 22). Mit der poststrukturalistischen Kritik gerät „in den Blick, dass dieser Akt der Selbstkonstitution ein Akt der Unterwerfung ist. Das von der Reflexivität implizierte Selbstverhältnis des Subjekts kann dann als Moment von Machtverhältnissen verstanden werden“ (ebd.) (vgl. auch Kap. 6). Oder anders formuliert: „Im gesellschaftlichen Prozess der Subjektivierung unterwerfen sich die Individuen bestimmten Schemata und Matrizen, sodass sie durch diese Unterwerfung hindurch zu sozial als autonom anerkannten – mit Interessen, Reflexivität, Selbstverwirklichungswunsch etc. ausgestatteten – Subjekten werden. Die Autonomie ist also Realität und Schein zugleich“ (Reckwitz 2017, S. 126).
Von Reflexivität kannReflexion abgegrenzt werden. Anke Karber (2021) fasst diese zunächst nach Jürg Aeppli und Hanni Lötscher (2016) als eine Denkaktivität mit der Folge von „Veränderung oder (Re-)Strukturierung“ (Karber 2021, S. 173). Mit John Dewey (2002) erweitert sie dann den Begriff als „Form der Problemlösung“, die Aspekte der Beunruhigung und des Zweifelns, Praktiken des Forschens und Suchens und die Kritik an Routinen beinhaltet (Karber 2021, S. 174). Mit Reflexion seien „zwei Blickrichtungen verbunden, welche sich nachinnen und nachaußen richten. In der Außenperspektive werden u. a. Situationen, Verhalten, die Umgebung, die Rahmenbedingungen fokussiert, wohingegen der nach innen gerichtete Blick u. a. auf eigene Gefühle, Einstellungen, Bedürfnisse oder Kompetenzen zielt“ (ebd., S. 175; auch Aeppli/Lötscher 2016).
Jürg Aeppli und Hanni Lötscher (2016) kritisieren, dass der BegriffReflexion häufig „für irgendeine (höhere) Form von Denken“ (ebd., S. 79) stehen „und nicht oder unzureichend von anderen Denkformen abgegrenzt“ (ebd.) würde. Entlang bestehender Definitionen fassen sie Reflexion erstens als Prozess, zweitens in Bezug auf einen Gegenstand (z.B. Theorien) und drittens im Hinblick auf die Zielerreichung (differenziertes Denken, Wissensveränderung). In ihrem Rahmenmodell für die Lehrer*innenbildung integrieren sie diese Aspekte und formulieren drei Bereiche aus (vgl. im Folgenden ebd., S. 82):
Der Bereich 1, die „Reflexionsphase“, berücksichtigt den zeitlichen Ablauf einer Reflexion und dessen Eigenschaften (Prozess).
Im Bereich 2 „Blickrichtung“ wird zwischen einer Blickrichtung nach innen und nach außen unterschieden: Bei der Blickrichtung nach innen „rücken eigene Kompetenzen, Gefühle, Überzeugungen, Einstellungen, Bedürfnisse, berufliche Identität oder Mission in den Fokus“ (ebd., S. 84). Bei der Blickrichtung nach außen werde „Umgebung, Rahmen, Akteurinnen und Akteure, beobachteten Ablauf, Verhalten von anderen, eigenes Verhalten“ (ebd.) fokussiert (Prozess& Gegenstand).
Im Bereich 3 „Denkaspekt“ wird „Gründlichkeit und der Stringenz in der Auseinandersetzung“ (ebd.) Thema. Entgegen hierarchischer Modelle, die die Güte der Reflexion bewerten, unterscheiden Aeppli und Lötscher hier zwischen „Konstruktion von Bedeutung“ (ebd., ...