1. KAPITEL
„Jacquelyn, es ist früh am Montagmorgen, und hier spricht Hazel McCallum. Ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte. Bei Ihrem letzten Besuch kamen wir während Ihres Interviews über Jake ein wenig vom Thema ab. Es wäre wohl besser, wenn wir uns noch einmal bei mir zu Hause treffen. Rufen Sie mich an, sobald es Ihnen passt, damit wir einen Termin vereinbaren können.“
Jacquelyn Rousseaux drückte die Rückspultaste ihres Anrufbeantworters und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde.
„Letztes Mal kamen wir ein wenig vom Thema ab.“ Du liebe Zeit, was für eine höfliche Untertreibung!
Jacquelyn war ihre für sie untypische mangelnde Zurückhaltung noch immer peinlich. In Atlanta erfuhren sogar die Menschen, die sie seit Jahren kannte, nur wenig über ihr Privatleben. Doch sobald sie und Hazel angefangen hatten, über das Leben im Allgemeinen und ihre Hoffnungen und Träume zu sprechen, hatte sie sich der älteren Frau, die praktisch eine Fremde war, vollkommen geöffnet. Die persönlichsten Dinge waren aus ihr herausgesprudelt, als müsste sie sich das alles endlich einmal von der Seele reden.
Sie verdrängte diese unerfreuliche Erinnerung und warf einen Blick auf die alte Standuhr in der Ecke, die in der Redaktion der „Mystery Gazette“ seit 1890 nahezu exakt die Zeit anzeigte.
Es war fast zehn Uhr vormittags. Jacquelyn rief Hazel an und vereinbarte rasch einen Termin für ein Uhr mit der „Herrscherin über Mystery“ – die Stadt, nicht die Zeitung – wie Jacquelyn die berühmte Rinderbaronin heimlich getauft hatte. Als sie sanft versuchte, mehr über die „etwas ungewöhnliche Bitte“ zu erfahren, sagte die kluge alte Lady nur: „Das werden Sie schon noch früh genug erfahren.“
Eine freundliche Frau mittleren Alters in einem beigefarbenen Hosenanzug trat aus der Plexiglaskabine im vorderen Teil der Redaktion. Die Chefredakteurin, Bonnie Lofton, hielt einen Stahlstichel in der einen und eine Schablone in der anderen Hand. Die „Gazette“ war eine der letzten Wochenzeitungen im Land, deren Layout nicht aus dem Computer stammte. Bonnie machte das Layout jeder Druckseite per Hand, um der Zeitung ein Aussehen „wie in alten Zeiten“ zu geben, ganz im Sinne der bevorstehenden 150-Jahr-Feier von Mystery.
„Guten Morgen, Jacquelyn“, begrüßte Bonnie ihr Redaktionsmitglied für den Sommer. „War das Hazels Stimme, die ich gerade gehört habe?“
„Ganz recht. Ich habe gleich zurückgerufen. Sie will sich noch einmal mit mir treffen. Den Grund dafür wollte sie mir allerdings nicht verraten.“
„Das ist typisch Hazel. Manchmal ist sie selbst das Mysteriöseste an Mystery. Sie hat ein so großes Herz, dass sie niemals jemanden in diesem Tal hungern oder frieren lassen würde. Aber sie ist der Boss, und sie erwartet, dass jeder das weiß.“
„Ich hoffe, es handelt sich nicht um ein Problem wegen des letzten Artikels, den ich geschrieben habe“, meinte Jacquelyn besorgt. „Ich habe sämtliche Zitate und Fakten gründlich geprüft.“
Bonnie winkte ab. „Unsinn! Soll das ein Witz sein? Du bist die beste Dokumentarjournalistin, die wir je unterbezahlt haben. Ich gehe jede Wette ein, dass deine Serie über Jake McCallum noch einen Preis gewinnen wird. Du hast dein Journalismusstudium noch keine drei Jahre hinter dir, und schreibst schon wie ein Profi aus den Nachrichtenagenturen.“
„Ja, klar. Das sagst du bestimmt zu allen Kindern vom Chef.“
Bonnie wedelte mit der Schablone. „Dein Vater ist nicht der Chef, Kleines, sondern ich. Er ist durch eine Fusion zufällig der Besitzer dieser und ein Dutzend anderer Zeitungen, die er wahrscheinlich niemals liest. Ich brauche weder vor ihm noch vor seinen Kindern zu buckeln. Aber sieh den Tatsachen ins Auge – du brauchtest nicht hierher zu kommen und für uns zu arbeiten. Trotzdem hast du bewiesen, dass du inzwischen eine gute Journalistin bist. Du hast wirklich Talent, und Talent ist etwas, was man mit Geld nicht kaufen kann.“
Jacquelyn lächelte. Bonnies bestimmte, aber freundliche Worte freuten sie. Wie viele Einheimische in Montana, die Jacquelyn während ihrer Sommeraufenthalte in Mystery kennengelernt hatte, war Bonnie zurückhaltender und verschlossener als die Menschen in Atlanta. Komplimente waren übliche verbale Rituale im Süden; im Westen hingegen musste man sie sich verdienen und schätzte sie dementsprechend.
Aber Talent, dachte Jacquelyn mit einem leichten Anflug von Verzweiflung, ist nur ein Teil einer Persönlichkeit. Sie hatte feststellen müssen, dass gutes Aussehen, Bildung und die richtige Erziehung nicht ausreichten, um im Leben und in der Liebe Glück zu haben.
Joes grausame Worte an jenem trüben Tag in Atlanta kamen ihr wieder in den Sinn: „Es tut mir leid,