: Benjamin Seebröker
: Interpersonelle Gewalt und gesellschaftlicher Wandel Lancashire 1728-1830
: UVK Verlagsgesellschaft mbH
: 9783739806358
: Konflikte und Kultur ? Historische Perspektiven
: 1
: CHF 0.50
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: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 299
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Entgegen der weitverbreiteten Forschungsmeinung, die von einem Rückgang der Gewalt in europäischen Gesellschaften im 18. Jahrhundert ausgeht, ist für Lancashire in England während dieser Zeit ein deutlicher Anstieg von Tötungsraten festzustellen. Die Fallstudie untersucht anhand von Tötungsdelikten die Auswirkungen von Frühindustrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum auf das Auftreten von gewaltsamen Auseinandersetzungen und ordnet gängige Fortschrittsnarrative kritisch ein. Methodisch verbindet das Buch dazu einen sozialgeschichtlich-quantitat ven mit einem kulturgeschichtlich-qualitati en Zugriff auf die Akten der Strafjustiz und wirft im Ergebnis ein neues Licht auf das Verhältnis von Gewalt und gesellschaftlichem Wandel in dieser wichtigen Transformationsphase am Übergang zur Moderne.

Benjamin Seebröker ist Frühneuzeithistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg der Universität Münster.

1Problem- und Fragestellung


Mit der Frage nach dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels auf interpersonelle Gewalt ist ein Untersuchungsfeld abgesteckt, das die Geschichts- und Sozialwissenschaften seit langer Zeit beschäftigt. Dass Gewalt ein zentrales Element bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit sozioökonomischen Transformationsprozessen darstellt, ist nicht überraschend, nimmt sie doch als „konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens“, wie sie die neue Gewaltsoziologie beschreibt, eine wichtige Rolle „in der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung“ ein.1

Zu den Auswirkungen des Aufbrechens sozialer Ordnungen und traditioneller Normsysteme auf Gewalthandeln existieren zahlreiche Erklärungsansätze, Interpretationen und eine unüberschaubare Menge an Publikationen. Bereits die frühe Soziologie beschäftigte sich mit dem Einfluss sozioökonomischer Transformationsprozesse auf (Gewalt-)Kriminalität, die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung vor allem in Großstädten, den Kristallisationspunkten des Wandels, zugenommen hätte.2 Mithilfe neuer sozialwissenschaftlicher Methoden und der elektronischen Datenverarbeitung konnten dann ab den 1970er Jahren größere Datenmengen analysiert und damit langfristige Entwicklungen besser untersucht werden. In verschiedenen Studien wurde so festgestellt, dass Urbanisierung und Industrialisierung gerade nicht zwangsläufig zu mehr Gewalt in den Städten geführt hätten, sondern Gewaltkriminalität vielmehr insgesamt zurückging und stattdessen Eigentumsdelikte einen immer größeren Anteil der Kriminalität ausmachten. Die von diesen Ergebnissen abgeleitete und auf modernisierungstheoretischen Ansätzen beruhendeviolence-au-vol-These geht davon aus, dass die Veränderung der Kriminalitätsmuster auf einen Wertewandel innerhalb der sozialen Systeme schließen lässt. Materielle Güter hätten im Zuge der Entstehung moderner Industriegesellschaften an Bedeutung gewonnen, was wiederum zu einer verstärkten Kriminalisierung und Verfolgung von Eigentumsdelikten führte.3

Diese These wurde aufgrund teils gravierenden Probleme bei der Auswertung der empirischen Daten und ihrer Implikation einer linearen Entwicklung kritisiert, aber auch mit neu erhobenen Daten versucht zu widerlegen.4 Die daraus hervorgegangenen empirischen Daten bildeten die Basis für eine Neuinterpretation, die Gewaltkriminalität nun isoliert betrachtete und die mit der Zivilisierungstheorie nach Elias5 eine neue theoretische Grundlage erhielt.6 Aufbauend auf der Beobachtung von sinkenden Tötungsraten, die man als Indikator für das Gewaltniveau von Gesellschaften in die Debatte einführte, wurde die These des Rückgangs von interpersoneller Gewalt auf die Zeit seit dem späten Mittelalter und auf weite Teile Europas ausgeweitet.7 Der Rückgang sei eingebettet gewesen in einen weitreichenderen Zivilisierungsprozess, der – ausgehend von den gesellschaftlichen Eliten – auch einen kulturellen Wandel umfasste und dazu führte, dass Gewalt immer stärker problematisiert, abgelehnt und als nicht länger akzeptierte Handlungsoption aus sozialen Interaktionen verdrängt wurde. Diese These erhielt sehr viel Aufmerksamkeit und Zuspruch, gerade auch in der nicht-akademischen Öffentlichkeit.8

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