: Josephine Tey
: Warten auf den Tod
: OKTOPUS by Kampa
: 9783311703457
: Ein Fall für Alan Grant
: 1
: CHF 16.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ganz London, scheint es, steht vor dem Woffington Schlange. Nach zwei Jahren Spielzeit ist dies die letzte Woche von Wussten Sie es nicht?. Wer das legendäre Musical noch einmal sehen will, muss stundenlang vor der Theaterkasse ausharren. Als inmitten des Gedränges ein Mann ohnmächtig zusammensackt, weichen die Umstehenden erschrocken zurück: Aus seinem Rücken des Mannes ragt der Griff eines Dolchs. Der Unbekannte ist tot, heimtückisch erstochen in der Menschenmenge. Inspector Alan Grant von Scotland Yard, der mit den Ermittlungen beauftragt wird, sieht sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber: Nicht nur hat niemand der Anwesenden irgendetwas beobachtet; auch die Identität des Toten ist vollkommen unbekannt. Grant hält sich an die wenigen Indizien, die er hat - den altmodischen Typ des Dolchs, die Kleidungsstücke des Toten und die merkwürdige Mordmethode -, und tut, was er am besten kann: Er nutzt die Kraft seiner Gedanken.

Josephine Tey ist das Pseudonym der schottischen Autorin Elizabeth MacKintosh (1896-1952), die vor allem für ihre Kriminalromane bekannt geworden ist. Mit dem Schreiben begann sie, nachdem sie ihre Arbeit als Sportlehrerin aufgeben musste, um ihre Mutter zu pflegen, die an Krebs erkrankt war. Nach deren Tod kümmerte sich Tey um den Vater und blieb auch danach in ihrem Elternhaus wohnen. Tey lebte sehr zurückgezogen, mied Interviews und öffentliche Auftritte. Sie starb im Alter von 55 Jahren während einer Reise nach London. Ihr Roman Alibi für einen König wurde von der englischen Autorenvereinigung Crime Writers' Association zum besten Kriminalroman aller Zeiten gewählt und 1969 mit dem Grand prix de littérature policière ausgezeichnet.

1Mord


Es war zwischen sieben und acht Uhr an einem Märzabend, und überall in London wurden die Schranken vor den Türen zum Parkett und zur Galerie zurückgezogen. Peng, bum und klirr: Grimmige Geräusche, um ein abendliches Vergnügen einzuleiten. Aber kein letzter Trompetenstoß hätte die erschöpften Wartenden auf Thespis und Terpsichore so elektrisieren können, die geduldig in Viererkolonnen vor den Toren der Verheißung standen, wie diese Geräusche. Natürlich gab es hier und da keine Warteschlange. Vor dem Irving lagerten fünf Leute auf den beiden Stufen und opferten an Wärme, was sie an Bequemlichkeit gewannen; die griechische Tragödie war nicht populär. Vor dem Playbox war niemand; das Playbox war exklusiv und kannte so etwas wie Parkett überhaupt nicht. Beim Arena-Theater, das eine dreiwöchige Ballettsaison hatte, warteten zehn Personen vor der Galerie und eine lange Schlange vor dem Parkett. Aber am Woffington schienen sich beide Menschenketten bis ins Unendliche zu erstrecken. Schon lange zuvor war ein gebieterischer Angestellter die Reihe vor dem Parkett entlanggegangen und hatte mit einer Geste seines ausgestreckten Armes, die die Hoffnung zu guillotinieren schien, verkündet: »Alle ab hier nur noch Stehplatz.« Nachdem er so durch ein knappes Zusammenziehen eines Schultermuskels die Spreu vom Weizen getrennt hatte, kehrte er in olympischer Haltung vors Theater zurück, wo jenseits der Glastüren Wärme und Schutz warteten. Aber niemand entfernte sich aus der endlosen Reihe. Die dazu verdammt waren, noch drei Stunden länger zu warten, schienen gleichgültig gegenüber ihren Leiden. Sie lachten und schwatzten und reichten einander stärkende Stücke Schokolade in aufgerissenem Silberpapier. Nur noch Stehplatz, ja? Nun, wer würde nicht stehen wollen und sich noch daran erfreuen, in der letzten Woche vonWussten Sie es nicht?. Beinahe zwei Jahre lang war jetzt Londons Musical schlechthin gelaufen, und dies war sein Schwanengesang. Die Parkettplätze und Ränge waren Wochen im Voraus gebucht worden, und viele törichte Jungfrauen, an Warteschlangen nicht gewöhnt, vergrößerten die Menschenmasse vor den versperrten Türen, weil alle Bestechungsversuche an den Kassen erfolglos geblieben waren. Jedermann in London, so schien es, versuchte ins Woffington zu kommen, um das Stück noch einmal zu bejubeln. Um zu sehen, ob Golly Gollan seiner Revue einen neuen Gag hinzugefügt hatte – Gollan, der von einem risikofreudigen Manager vor einem Leben auf der Straße bewahrt worden war, seine Chance bekommen und sie genutzt hatte. Sie kamen, um sich ein weiteres Mal im Liebreiz und im Ruhm von Ray Marcable zu sonnen, dem Kometen, der zwei Jahre zuvor aus dem Nichts kommend am Zenit erstrahlt war und den Glanz der alten und etablierten Stars getrübt hatte. Ray tanzte wie ein schwebendes Blatt, und ihr kleines schüchternes Lächeln hatte in einem halben Jahr die Vorliebe für das strahlende Zahnpastalachen ausgestochen. Ihre Kritiker nannten das »ihren undefinierbaren Charme«, doch ihre Bewunderer fanden eine Menge außergewöhnlicher Ausdrücke dafür und behalfen sich mit Gesten und Mienenspiel, wenn Worte zu schwach waren, um ihr feenhaftes Wesen zu vermitteln. Nun ging sie nach Amerika, wie alles Gute, und nach den letzten beiden Jahren würde London ohne Ray Marcable eine unvorstellbare Wüste werden. Wer würde da nicht ewig stehen, um sie noch ein letztes Mal sehen zu können?

Seit fünf Uhr hatte es genieselt, und dann und wann griff sich ein kühler Lufthauch den Regen und strich ihn mit einem langen Pinselstrich halb spielerisch von einem Ende zum anderen über die Menge. Das entmutigte niemanden – sogar das Wetter machte an diesem Abend seine Scherze; es hatte gerade genug Geschmack, um einen passenden Aperitif abzugeben für die Kost, die auf sie